Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Der fast unsichtbare Müll
Mikroplastik verschmutzt die Weltmeere – Die Partikel schwimmen aber auch in heimischen Gewässern wie dem Bodensee
- Dunkle Wolken spiegeln sich im glatten Wasser des Bodensees. Gerade hat es am Konstanzer Ufer, dort, wo der Rhein Unter- und Obersee verbindet, noch geregnet. Jetzt kämpft sich die Sonne durch die Wolken und verleiht dem See stellenweise eine glitzernde Oberfläche. Mit routinierten Ruderschlägen schiebt Rainer Schmid sein rotes Kanu rheinabwärts durch das größte Naturschutzgebiet auf dieser Seeseite. Wegen des schlechten Wetters sind so gut wie keine Motorboote im Wollmatinger Ried unterwegs. Schilf wiegt sich still im Wind, Kormorane sitzen auf angeschwemmten Holzstämmen. Bodensee-Idylle und Natur pur.
Konterkariert wird das Bild aber von dem, was sich im Inneren des Kanus von Rainer Schmid angesammelt hat: Plastikflaschen, kaputte Feuerzeuge, Tüten und Eisverpackungen türmen sich dort. „Dass es so viel wird, hätte ich nicht gedacht“, sagt Schmid.
Die letzten zwei Stunden hat der Vorsitzende des Kanu-Clubs Konstanz damit verbracht, Müll aus dem Ried zu fischen. In dem Naturschutzgebiet ist besonders viel Unrat zu finden, weil man vom Land nicht an den Spülsaum kommt, um Müll aufzusammeln. Deswegen haben die Kanuten auch bei normalen Ausfahrten oft Müllsäcke dabei. Schmid weiß aber auch: Der gefährlichste Müll ist der, den man nicht sieht. Weil er so klein ist, dass es schon zu spät ist, um ihn noch aus dem See zu angeln: Mikroplastik, also Teilchen, die kleiner als fünf Millimeter sind.
In den Weltmeeren ist Mikroplastik ein längst bekanntes Problem. Drei Viertel des Mülls im Meer ist Plastik, jährlich kommen Tonnen dazu und kosten Tiere das Leben. Mittlerweile weiß man: Auch heimische Flüsse, Bäche und Seen sind betroffen. In praktisch allen Gewässern befindet sich Mikroplastik – auch im Bodensee. Das hat eine Pilotstudie der Länder BadenWürttemberg, Bayern, NordrheinWestfalen, Hessen und RheinlandPfalz aus dem Jahr 2018 ergeben. Dafür haben die Forscher an 23 Messstellen aus den Oberflächen Wasser entnommen, auch in Romanshorn und Friedrichshafen. Das Ergebnis: Im Wasser waren 18 Partikel pro 1000 Liter in Romanshorn und fünf Partikel in Friedrichshafen. Im Vergleich zu anderen Messstellen ist diese Konzentration laut der Internationalen Gewässerschutzkommission für den Bodensee zwar gering und die Wasserqualität des Bodensees weiterhin gut. Ein Problem sind die kleinen Kunststoffpartikel aber dennoch.
„Wenn nichts unternommen wird, wird der Anteil an Mikroplastik in den Gewässern zunehmen“, sagt Udo Gattenlöhner, Agrarwissenschaftler und Geschäftsführer der internationalen Umweltstiftung Global Nature Fund (GNF) mit Sitz in Radolfzell. Solange der Verbrauch von Plastikverpackungen jährlich pro Kopf in Deutschland steigt, vermehre sich auch der Müll im Wasser.
Denn 90 Prozent des Plastiks im Wasser kommen vom Landesinnern. Durch Abrieb und Sonnenstrahlen zersetzen sich die Tüten und Flaschen und landen als kleine Teilchen in den Flüssen und Seen.
Bislang sei noch nicht vollständig erforscht, wie die Mikrostoffe auf Umwelt und Mensch wirken, sagt Udo Gattenlöhner. „Die winzigen Partikel haben aber, wahrscheinlich in Wechselwirkung mit Medikamentenund Hormonrückständen, eine endokrine Wirkung,“sagt der Umweltexperte. Das heißt: Sie beeinflussen unser Hormonsystem. Und: „Ohne Lösungen wird Mikroplastik in Zukunft größere gesundheitliche Auswirkungen auf uns haben.“
Udo Gattenlöhner beschäftigt sich seit Langem mit dem Thema Mikroplastik. Gemeinsam mit der Bodensee-Stiftung hat seine Organisation, der GNF, im letzten Jahr das Projekt „Blue Lakes“ins Leben gerufen. Dabei geht es auch darum, Mikroplastik schon bei der Entstehung zu vermeiden, sodass es erst gar nicht in die Umwelt gelangt.
Die Quellen für Mikroplastik sind unterschiedlich. Der wohl größte Teil des Plastiks im Wasser kommt laut Bund für Umwelt und Naturschutz vom Abrieb der Autoreifen. Nach einer Studie des Umweltbundesamts verbleiben zwischen 133 000 bis 165 000 Tonnen Kunststoff pro Jahr dadurch in der Umwelt. Auch der Baubereich, die Landwirtschaft, Kleidung und das bloße Müllwegwerfen, auch Littering genannt, sorgen für die Partikel.
Wie aber das Mikroplastik aus dem Wasser bekommen? Darüber macht sich der Leiter der größten Abwasserreinigungsanlage am Bodensee, Mirco Ebeling, seine Gedanken. Zwar könnten circa 95 Prozent des Mikroplastiks schon über den Klärschlamm herausgetrennt werden, ein letzter Rest bleibt aber zurück, sagt Ebeling. In BadenWürttemberg wird dieser Klärschlamm zum Großteil zumindest nicht mehr in der Landwirtschaft eingesetzt, sondern thermisch verwertet. Andere Bundesländer sind noch nicht so weit.
In einer sogenannten vierten Stufe der Abwasserreinigung werden Spurenstoffe aus dem Wasser gefiltert. Der Nebeneffekt: Dabei werden auch kleine Plastikteile ausgesiebt. Von den rund 900 Kläranlagen in Baden-Württemberg haben 21 eine solche Reinigungsstufe. Darunter sind auch einige am Bodensee, wie in Friedrichshafen, Kressbronn, Eriskirch und Ravensburg. In Uhldingen wird gerade eine eingebaut. Bei 22 anderen Kläranlagen in Baden-Württemberg sind die Filtrationsstufen geplant oder in der Bauphase.
In Konstanz hat man sich 2018 gegen den Einbau entschieden. Begründet mit einer zu niedrigen Konzentration der Spurenstoffe und auch von Mikroplastik – soweit bis dahin erforscht.
Erste Klärwerke in Deutschland, zum Beispiel das in Landau in Rheinland-Pfalz, testen extra Techniken, um das Mikroplastik aus dem Wasser zu ziehen. Dabei werden in einem Strudel die vielen kleinen Partikel an einer Stelle lokalisiert und mit einem Gel zu einem Klumpen zusammengeklebt. Die großen Teile werden dann aus dem Wasser gesiebt.
Insgesamt steckten diese Techniken noch in den Kinderschuhen, sagt Ebeling vom Konstanzer Klärwerk. „Wir sind da praktisch auf dem Stand der Wissenschaft.“Als Betreiber könne er nur umsetzen, was gesetzlich vorgegeben wird. Deshalb hält Ebeling Fördergelder für wichtig, damit weiter geforscht und eine Datengrundlage geschaffen werden kann. Denn: „Solange das Mikroplastik im Kreislauf ist, besteht die Gefahr, dass wir es über das Trinkwasser oder Fische zu uns holen.“Nicht wirklich bedroht vom Mikroplastik
fühlen sich die Fischer am Bodensee. Ein Anruf bei der Verbandsvorsitzenden der badischen Berufsfischer, Elke Dilger, zeigt, dass andere Themen aktuell mehr beschäftigen: zum Beispiel immer weniger Fischertrag im Bodensee oder die Kormorane, die gefiederten Feinde der Fischer. „Ab und zu erzählt schon mal ein Fischer, dass er wieder eine Plastiktüte im Netz hatte“, sagt Elke Dilger. Natürlich gebe es Müll im See, aber den Fischern falle das nur in geringen Mengen auf.
Was die Fischer auf der Gefühlsebene erzählen, konnten Forscher der Fischereiforschungsstelle Langenargen vor ein paar Jahren mit
Zahlen belegen. Sie haben die Belastung durch Mikroplastik für Fische im Bodensee untersucht und kamen zu dem Ergebnis, dass der Anteil an Fischen, die Mikroplastik aufgenommen habe und auch die Mengen vergleichsweise gering sind. Bei allen Teilen, die in den Fischen gefunden wurden, handelt es sich zwar um Mikroplastik. Der Anteil an betroffenen Fischen war aber kleiner als 20 Prozent. Unklar sei aber, welche Folgen das für die Fische hat, schreiben die Forscher in ihrem Abschlussbericht.
In der Wasserversorgung ist man trotz allem darum bemüht, Mikroplastik aus dem Wasser zu schöpfen. Immerhin ist der Bodensee der größte Trinkwasserspeicher Europas, vier Millionen Menschen in Baden-Württemberg trinken täglich sein Wasser über die hauseigene Leitung. Damit das so hochwertig bleibt, wie es ist, baut die Wasserversorgung Bodensee in allen Wasserwerken bald eine Ultrafiltration ein. Auch bisher hätten Siebe im Wasserwerk Sipplinger Berg Mikroplastikteilchen im Rohwasser zurückgehalten. Zumindest die, die größer als 15 Mikrometer und größer als ein Mikrometer sind, sagt eine Sprecherin der Wasserversorgung. Mit der neuen Technik könnten aber auch „Feststoffe, Algen und Mikroorganismen die 0,2 Mikrometer großen Poren der Membran nicht passieren“.
Die Landesregierung hat das Thema ebenfalls bereits auf dem Schirm. Sie hat rund eine Million Euro in die Entwicklung eines Verfahrens gesteckt, das Mikrokunststoffe in Komposten, Gärresten und Böden nachweisen kann. Außerdem setze sich das Umweltministerium für verschärfte Anforderungen an die Bioabfallverwertung ein und hat 2019 die Sportstättenförderung für neue Kunststoffrasenplätze mit Füllgranulat eingestellt. Denn Regen spült bei Abnutzung der Plätze Plastikteilchen aus, die als Mikroplastik im Grundwasser landen.
Weniger einfach reden lässt sich offensichtlich mit Reifenherstellern. „Heruntergebrochen ist es so: Wenn wir bei denen anrufen, geht keiner ran“, sagt Udo Gattenlöhner vom GNF. Für ihn sei aber klar, dass die reichen Länder, in denen die Reifen hergestellt werden, auch in der Verantwortung stehen.
Einer der größten europäischen Reifenhersteller, Continental, stellt zumindest teilweise um und produzierte erste Reifen aus Löwenzahnkautschuk. Damit geht man das Problem der Rohstoffbeschaffung an, denn für herkömmliche Kautschukplantagen in Asien müssen Regenwälder abgeholzt werden. Aber inwieweit die Abriebpartikel des Naturkautschuks dennoch negative Auswirkungen auf Organismen und die Umwelt haben, ist noch unklar. Viele in der Wissenschaft gehen davon aus, dass auch Naturkautschuk nur extrem langsam biologisch abbaubar ist. „Nur weil bestimmte Komponenten abgebaut werden, heißt das noch nicht, dass sie keinen Einfluss auf die Umwelt haben“, so Christian Laforsch von der Universität Bayreuth, der Experte für Mikroplastik ist. Außerdem bestehe Reifengummi nicht nur aus Kautschuk, sondern auch aus Füllmaterialien, wie Ruß, Verstärkungsmaterialien und Weichmachern.
Continental sagt, es strebe an, Methoden zu entwickeln, um die Auswirkungen des Reifen- und Straßenabriebs auf die Umwelt zu minimieren. An einigen Projekten sei das Unternehmen bereits beteiligt.
Wie bei der Auswirkung von Reifenabrieb, sind auch die Daten in Bezug auf die Mengen von Mikroplastik in Flüssen und Gewässern lückenhaft – trotz der Pilotstudie der Länder. Wie viel Mikroplastik tatsächlich im Bodensee ist und an welchen Stellen das meiste Plastik in den Müll gerät, weiß bisher niemand. Um das zu ändern, hatte die europäische Organisation Surfrider Europa mit Sitz in Frankreich und einem Büro in Überlingen, eine Idee. Beim Sammeln von Daten soll eine App namens Plastic Origins (englisch für „Herkunft des Plastiks“) helfen.
Der Plan: Freiwillige suchen an Uferabschnitten nach Müll und tragen in ihr Handy ein, welche und wie viele Teilchen sie gefunden haben. Mit dem erfassten Müllaufkommen wollen die App-Gründer Rückschlüsse auf die Mikroplastikbelastung ziehen. Je nachdem, wie viel Plastikmüll wo erfasst wird, werden Uferabschnitte dann in grüne, orange und rote Bereiche eingeteilt.
Sobald es genug Daten gibt, soll das System mithilfe von Künstlicher Intelligenz vereinfacht werden. In der Folge müsste nicht mehr jedes Teil ins Smartphone eingetippt werden, sondern es würde reichen, den Uferabschnitt abzufilmen. Die Kamera erkennt die Gegenstände dann von selbst und überträgt sie in das Datensystem.
Damit so viele wie möglich von dem Projekt erfahren, reisen die jungen Leute gerade per Kanu, Kajak und zu Fuß zwei Wochen entlang des Rheins durch die Schweiz, Deutschland, Frankreich und die Niederlanden. Sie wollen Kommunen an Gewässern dazu bringen, aktiv zu werden. Gestartet ist die Gruppe letzte Woche am Bodensee und hat ihr Projekt beim Kanu-Club Konstanz vorgestellt.
Kanute Rainer Schmid findet die Idee der App gut, zweifelt aber an ihrer Wirkung. „Mikroplastik sieht man nicht und für viele ist das Thema unnahbar“, sagt Schmid. Dennoch möchte er die App unter seinen Kanuten bewerben. Denn dass sich etwas verändern muss, da ist sich Schmid sicher.
Sein Kanu voller Müll zu sehen, mache ihm Angst, sagt er, während er sein Boot aus dem See zieht. Die schwarzen Wolken haben sich zum Ende der Tour vollständig verzogen. Schmid trägt das Kanu zurück zur Halle des Clubs und sortiert den Müll in die Tonnen ein, die dort aufgereiht sind. „Der See ist unser Sportplatz und wie jeder Platzwart den Rasen mäht, müssen wir dafür sorgen, dass der See sauber ist“, sagt Schmid. Nicht nur Kanufahrer hätten die Verantwortung, sich um ihre Lebensgrundlage – das Wasser – zu sorgen. Und mit Blick auf den türkisblauen Bodensee sagt er: „Die Menschen hier am Bodensee sprechen nur noch nicht von Mikroplastik.“