Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Frankreich erschüttert von sexueller Gewalt gegen Kinder
Ein Untersuchungsbericht beziffert die Zahl der Opfer in der katholischen Kirche auf mehr als 300 000
- Jean-Marc Sauvé ist ein gläubiger Katholik, der ein langes Berufsleben hinter sich hat. Doch was der 72-Jährige in den vergangenen zweieinhalb Jahren hörte und sah, das erschütterte den pensionierten Vizepräsidenten des französischen Staatsrates. „Ich wurde in meinem Berufsleben nicht geschont, doch das war nichts im Vergleich zu dem, was meine Kolleginnen und Kollegen herausfanden“, sagte er der Zeitung „Le Monde“. Gemeint war der Bericht über Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche, den Sauvé am Dienstag vorlegte. Die Ergebnisse sind erschütternd: 216 000 Kinder wurden den Schätzungen unabhängiger Experten zufolge in den vergangenen 70 Jahren Opfer von Missbrauch durch Priester und Ordensleute. Auf 330 000 Opfer steigt die Zahl, wenn Laien – beispielsweise in Schulen oder Ferienlagern – als Täter mit eingerechnet werden. Mehr als 80 Prozent der missbrauchten Kinder waren Jungen, die meisten davon im Alter zwischen zehn und 13 Jahren.
„Diese Zahlen sind mehr als besorgniserregend. Sie sind erdrückend und dürfen nicht ohne Konsequenzen bleiben“, mahnte Sauvé. Der katholische Kirche warf er vor, ein System aus Nachlässigkeit, Fehlern und Schweigen errichtet zu haben. „Die Kommission ist zu einem einstimmigen Schluss gekommen: Die Kirche wollte nicht sehen, nicht verstehen, die schwachen Signale nicht hören.“Eine „grausame Gleichgültigkeit“habe bis zu Beginn der 2000er Jahre geherrscht, als die ersten Skandale in den USA und Irland bekannt wurden.
Seinen eigenen Skandal erlebte das Frankreich 2016 mit dem Fall des Erzbischofs von Lyon, Philippe Barbarin. Dem Kirchenmann wurde vorgeworfen, jahrelang den Priester Bernard Preynat gedeckt zu haben, der sich an Pfadfindern verging. Der Missbrauch lieferte dem Regisseur François Ozon die Vorlage für seinen Film „Grâce à Dieu“. Barbarin wurde im vergangenen Jahr in einem Berufungsverfahren freigesprochen, gab aber sein Amt auf und zog sich zurück.
Der Fall des Erzbischofs bewegte seine Kollegen vor zweieinhalb Jahren dazu, eine unabhängige Kommission einzusetzen, die den Kindesmissbrauch untersucht. Drei Millionen Euro gaben die Bischofskonferenz und die Vereinigung der Ordensleute für diese Arbeit aus, die in ihrem Ausmaß die Aufarbeitung in anderen Ländern deutlich übersteigt. Mithilfe der Organisation France victimes befragte die Kommission unter dem Vorsitz von Sauvé mehr als 6500 Opfer. Außerdem nutzten die 22 Kommissionsmitglieder, darunter Juristen, Psychiater, Anthropologinnen, Theologinnen und Soziologinnen, die Kirchenarchive und forschten in Justiz- und Polizeidokumenten sowie alten Zeitungen.
Heraus kam ein 485 Seiten langer Bericht mit 2000 Seiten Anhang, der die sexuelle Gewalt gegen die Kinder dokumentiert – begangen von rund 3000 Priestern und Ordensleuten. Rein statistisch gesehen ist das Missbrauchsrisiko in katholischen Einrichtungen zweimal höher als im Sportverein oder in staatlichen Schulen. „Die katholische Kirche ist neben dem Familien- und Freundeskreis das Milieu, wo die sexuelle Gewalt am stärksten ist“, konstatierte Sauvé. Papst Franziskus reagierte auf den Bericht „mit maßlosem Kummer“. Er forderte nach Angaben seines Sprechers die katholische Kirche Frankreichs auf, „den Weg der Erlösung zu gehen.“Die französische Bischofskonferenz hatte bereits im Frühjahr ein System finanzieller Entschädigung angekündigt, das sich allerdings aus den Spenden der Gläubigen speisen soll. Anders als in Deutschland gibt es im laizistischen Frankreich keine Kirchensteuer.
Der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Eric de Moulins-Beaufort, bat die Opfer um Vergebung. „Ich drücke meine Scham aus, mein Entsetzen, meine Entschlossenheit zu handeln.“Sauvé empfahl der katholischen Kirche bereits einige Reformen. Sie müsse auch Laien in ihre Entscheidungsstrukturen mit einbeziehen, die Priesterausbildung reformieren und damit aufhören, den Priester zu überhöhen –„als Abbild Christi auf Erden“.