Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Warschau steuert Richtung Pol-Exit
Oberstes polnisches Gericht lässt Konflikt um EU-Recht weiter eskalieren
- Diese Entscheidung hat in Brüssel wie eine Bombe eingeschlagen: Das oberste polnische Gericht hat am Donnerstag entschieden, EURecht und den Europäischen Gerichtshof in allen die Justiz und die Rechtsstaatlichkeit betreffenden Fragen nicht mehr als übergeordnet anzuerkennen. Das heizt die Debatte darüber weiter an, ob die von der PiS-Partei unter Jaroslaw Kaczynski gesteuerte Regierung einen Austritt aus der Europäischen Union anstrebt.
Seit Jahren beanstandet Brüssel Teile der von PiS betriebenen Justizreform, die aus Sicht der EU-Kommission die richterliche Unabhängigkeit gefährdet und schrittweise aushebelt. Streit gab es auch darum, dass die Verfassungsrichter nun direkt von der Regierung ernannt werden und damit aus Brüsseler Sicht nicht mehr unbeeinflusst urteilen können. Nun streitet eben dieses oberste Gericht der EU-Kommission und dem Europäischen Gerichtshof EuGH in Luxemburg die Kompetenz ab, in diesen Fragen zu urteilen. Das Urteil wurde in den vergangenen Monaten mehrfach aufgeschoben – vermutlich auf Bestreben der Regierung, die weiterhin auf den Brüsseler Geldsegen angewiesen ist. Auch jetzt ist das Urteil noch nicht rechtskräftig. Erst wenn es die Regierung veröffentlicht, werden Fakten geschaffen.
Experten für EU-Vertragsrecht sind sich einig, dass spätestens seit der Vertragsreform von Lissabon 2007, wo die EU-Grundrechtecharta für sämtliche Mitgliedsstaaten für rechtsverbindlich erklärt wurde, die
EU-Kompetenz bei allem, was die Unabhängigkeit der Justiz betrifft, eindeutig gegeben ist. An der Vertragsreform war Polen beteiligt, da es bereits seit 2004 der Gemeinschaft angehört. Zudem steht in Artikel 2 des EU-Vertrags, dass Rechtsstaatlichkeit zu den Werten gehört, die allen Mitgliedsländern gemeinsam sind. Artikel 19 regelt die übergeordnete Zuständigkeit des Europäischen Gerichtshofs in allen die EU-Verträge betreffenden Fragen.
Die polnische Regierung macht nun klar, dass sie die EU-Verträge in Teilen nicht mehr als bindend betrachtet. Aus Sicht von Jakub Jaraczewski von der in Berlin ansässigen Denkfabrik „Democracy Reporting
International“ist das „eine Infragestellung europäischen Rechts in einem bisher nicht gekannten Ausmaß“. Allerdings ist es nicht das erste Mal, dass ein nationales Verfassungsgericht die übergeordnete Zuständigkeit der Kollegen in Luxemburg anzweifelt. Im Mai 2020 hat das Bundesverfassungsgericht festgestellt, dass der EuGH seine Kompetenzen überschritt, als er Klagen gegen die Staatsanleihenkäufe der Europäischen Zentralbank abwies. Die EU-Kommission eröffnete daraufhin ein Vertragsverletzungsverfahren, das noch nicht abgeschlossen ist.
Schon damals wiesen Beobachter auf die verheerende Signalwirkung hin, die das Karlsruher Urteil auf potenziell abtrünnige Regierungen in Polen, Ungarn und Tschechien haben könnte. Jeroen Lenaers, Sprecher der Europäischen Volkspartei im Justizausschuss, glaubt, das Urteil untergrabe die Versicherungen der polnischen Regierung, dass sie nicht den Plan verfolge, aus der EU auszutreten. „Das ist ein Angriff auf die EU als Ganzes“, so der Abgeordnete. Der Wissenschaftler Jaraczewski sieht darin „einen Schritt Richtung Abgrund, Richtung ‚legaler Polexit‘“. Die grüne Europaabgeordnete Terry Reintke, eine der Berichterstatterinnen zum Streit EU versus Polen, sagte, das Urteil widerspreche „allem, wozu sich die polnische Regierung als Mitglied der Union verpflichtet hat“.
Der grüne Finanzexperte Sven Giegold begrüßte gestern, dass die EU-Kommission die Auszahlung des polnischen Anteils am Corona-Wiederaufbaufonds bereits gestoppt habe. Noch immer seien die Zustimmmungswerte im Land für die EU sehr hoch – unter anderem, weil die Menschen die Fördermittel aus Brüssel zu schätzen wüssten. „Wer EU-Recht bricht, kann nicht auf EU-Gelder zählen. Nun erntet Polens Regierung die finanziellen Sanktionen, die viele Menschen in Polen nicht wollen.“Die EU-Kommission müsse zügig ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten, damit auch Regional- und Agrarförderung gekürzt werden könnten. Die EU-Kommission kündigte an, das Urteil genau zu prüfen und dann angemessen zu reagieren. Sie könnte weitere Mittel kürzen und den Europäischen Gerichtshof einschalten, sobald die Entscheidung des polnischen Gerichts im Regierungsanzeiger veröffentlicht wurde.