Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Festival-Flair? Fehlanzeige!
Die 72. Berlinale läuft und tut sich schwer als Präsenzveranstaltung – Auftakt mit überdrehtem Fassbinder-Remake
- Wer gewinnt das Rennen, die Omikron-Welle oder die Berlinale? Vermutlich gehen gerade beide gleichzeitig durchs Ziel. Entgegen vieler Warnungen, gegen Skepsis und auch gegen wütende Kritik hat das Berliner Filmfestival gestern seinen Auftakt genommen – es soll ein selbstbewusstes Signal des kulturellen Neustarts sein. Und das, da andere Kulturveranstaltungen abgesagt werden, wie die Leipziger Buchmesse. Was macht den Unterschied?
Zum einen hat die Berlinale teils aus Trotz, teils mit unbedingtem Willen auf die physische Präsenz gesetzt – eine Absage stand angesichts der explorierenden Werte eigentlich nie zur Diskussion. Zu früh hatte man die Filme eingeladen, die Programme festgelegt, das extrem strenge Hygienekonzept entworfen. Das Programm: reduziert, die Festivaldauer: von zehn auf sechs Tage gekürzt, die Zahl der erwarteten Stars am roten Teppich: wohl sehr überschaubar. Die Politik, namentlich die neue Kulturstaatsmininisterin Claudia Roth, stützte diesen Kurs.
Eher aus der Medienszene kamen die Bedenken: Ausgerechnet eine Mitarbeiterin des Senders Radio Berlin Brandenburg (RBB), einer der Hauptsponsoren des Festivals, attackierte vor einigen Wochen das Vorhaben, sagte ein SuperspreaderEvent voraus, zumal es – wie bei anderen Festivals derzeit – Streaminglinks der einzelnen Beiträge nicht gibt. Vertreter der Kinoindustrie gaben den Ball eben so scharf zurück – wenn die Branche leide wie jetzt, müsse es Zeichen wie das einer auch nur halbwegs funktionierenden Berlinale geben. Auch eine Verschiebung in den Sommer kam nicht in Frage: zu nah an Cannes, die aktuell gebuchten Beiträge wären verloren.
Und so nahm sie am Mittwoch ihren Auftakt. Und man kann nicht sagen, dass es eine reine Freude ist – der geneigte Kinogänger muss schon in sehr saure Äpfel beißen, um eben jenes positive Zeichen zu setzen. Maximal halb volle Säle ohne freie Platzwahl, das Programm, auch wenn weniger Filme laufen als sonst, ist gedrängt und lässt wenig Spielraum für Freiraum, wenn man nur den Wettbewerb im Fokus hat. Die Atmosphäre: gedrückt, bedrückend, von Fieber keine Spur, wobei das ja im seinem anderen Sinn eine positive Nachricht wäre. Aber Festivalflair?
Zur Depression trägt der Potsdamer Platz bei – jene urbane Vorhölle aus Systemgastronomie, Büroverschlägen und kalten Fallwinden. Das zentrale Cinemaxx-Kino, in dem etwa die Wettbewerbsfilme der Presse in sechs Sälen gleichzeitig laufen, ist eine heruntergerockte Abspielstätte, die ganz schnell eine Komplettsanierung verdient hätte. Dazu kaum Möglichkeiten, sich zwischen Filmen gemütlich zu treffen. Da passt es dann wenigstens, dass auch deutlich weniger Medienvertreterinnen und -vertreter angereist sind als sonst. Festival-Co-Chef Carlo Chatrian kommentierte das zuletzt in der „Frankfurter Rundschau“deutlich genervt und patzig: „Wenn Sie Angst haben, dann bleiben Sie besser zu Hause!“
Und so läuft sie denn nun, diese 72. Berlinale, die so ganz anders ist als alle Vorgänger. Unter den Umständen
haben Chatrian und seine Co-Chefin Mariette Rissenbeek sogar einen passablen Wettbewerb zusammengestellt, wenn man davon ausgeht, dass Berlin bei großen Namen mit Cannes und Venedig schon länger nicht mehr mithalten kann. Großes US-Kino ist praktisch überhaupt nicht zu sehen – und das darf einem solchen A-Festival eigentlich nicht passieren.
Zum Auftakt lief am Mittwoch François Ozons „Peter von Kant“, eine Art Remake des frühen FassbinderFilms „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“. Ein beziehungsreicher Auftakt: Das Original lief vor genau 50 Jahren im Berliner Wettbewerb. Außerdem setzt Ozon damit seine schon seit Langem anhaltende Faszination für das Regieekel fort; im Jahr 2000 hat er bereits das Fassbinder-Stück „Tropfen auf heiße Steine“verfilmt.
In „Peter von Kant“spiegelbildet er die damals lesbisch-obsessive Beziehung in ein schwules Drama um einen Filmregisseur, der wiederum die selbstzerstörerischen Züge Fassbinders (mit ein paar Elementen Peter Kern) trägt. Am Ende hat Hanna Schygulla, vor 50 Jahren eine der Hauptrollen im „Petra“-Film, einen großen Auftritt und singt herzzerreißend „Schlaf, Kindchen, schlaf“. Die Rolle des stummen, treuen, gleichwohl stets gedemütigten Dieners Karl (damals: Irm Hermann, heute mit Zügen eines Peer Raben) spielt Stefan Crepon in seiner ersten großen Rolle – er ist am Ende der einzige, der seine Würde behält.
Wie Fassbinder inszeniert sein Adept Ozon die Geschichte als Kammerspiel, die Kamera verlässt kaum Kants Kölner (!) Wohnung, die Handlung ist nach wie vor in den frühen 1970er-Jahren angesiedelt. Man muss das mögen: Völlig überkandideltes Theater-Schauspiel, völlig artifiziell, immer am vollen Anschlag, gerne mit Gebrüll, gerne mit fliegenden, splitternden Flaschen, alle Figuren überzeichnet bis zum unfreiwilligen Humor. Oder ist das vielleicht sogar alles als große Komödie gemeint? Hoffentlich hat der Wettbewerb da noch ein paar andere Trümpfe in der Hinterhand – wir wollen und sollen doch alle ein Zeichen fürs Kino setzen.