Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Als Wirtshäuser die Zentren der Dorfgemeinschaft waren
3. Lesestation von „Geschichten hinter der Geschichte“- „Dorf im Wandel“und „Gedanken einer Nachgeborenen“sind Themen
BAD SAULGAU/ HOLZMÜHLE - Zur 3. Lesestation von „Geschichten hinter der Geschichte“hatte die Arbeitsgruppe SLG – Spuren Lebendig Gemacht in die Holzmühle eingeladen. War es der Veranstaltungsort, die sehr sorgfältig sanierte ehemalige Getreidemühle der Familie Beller-Härle, oder die Themen dieser Lesung die soviel Zuspruch erfuhren? Alle Sitzplätze waren belegt, selbst die Stehplätze waren Mangelware, worüber sich die Sprecherin der Arbeitsgruppe und Moderatorin des Abends, Stadtarchivarin Mary Gelder, bei der Begrüßung freute.
„Gedanken einer Nachgeborenen Das Leben in Wolfartsweiler“war der Titel des Beitrags von Karin Mutschler. „Der Krieg wirkt, auch wenn man ihn persönlich nicht erlebt hat. Er wirkt durch Erzählungen, Gesprochenes, aber auch nicht Gesprochenes, vor allem in Familien. Ein Krieg zerstört Träume, Pläne, Existenzen und Menschen, er zerstört blühende Landschaften und pulsierende Städte“so ihre Einleitung in ihre Recherchearbeit über Wolfartsweiler im III. Reich und im Zweiten Weltkrieg. Basis ihrer Arbeit waren die Niederschriften des damaligen Wolfartsweiler Bürgermeisters in den Jahren 1931 bis 1946. Welch Hoffnungen in die neue Regierung unter Adolf Hitler gesetzt wurden, zeigt eine Eintragung anlässlich einer Gedenkfeier 1933: „Möge der Gemeinde unter ihrem neuen Führer Glück und Segen beschieden sein. Möge das deutsche Volk und Vaterland wieder zu Friede und Einigkeit zurückkehren und aufbrechen zur einstigen Kraft, Ruhm und Ehre“. Welche Auswirkungen die Politik der Diktatur
bis in die kleinsten Ortschaften hatte, zeigte unter anderem das Gleichschaltungsgesetz im März 1933, das dazu führte, dass die bisherigen Gemeindegremien genauso aufgelöst wurden wie die Konfessionsschulen.
Der Tag der Nationalen Arbeit, die Sonnwendfeiern, die Pflanzung einer Hitlerlinde, die Mütterehrungen mit dem „Ehrenkreuz der deutschen Mutter“waren Momente, in denen mit Ansprachen, Liedern und eindringlichen Appellen dem nationalen Geist gehuldigt wurden. „Hätte ich mich auch begeistern lassen oder hätte ich den Mut gehabt, mich zu widersetzen“, so die nachdenkliche Frage des Abends. Als am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg ausbrach, waren es nicht nur die jungen Männer, die als Soldaten ihren vaterländischen Dienst verrichten mussten, das Dorf musste „als Sofortmaßnahme einen Kriegsbeitrag von 131 Reichsmark monatlich leisten, Pferde beschaffen und Heu und Getreide abliefern“. Als der Krieg zu Ende ging hatte Wolfartsweiler 19 Gefallene und Vermisste zu betrauern.
Eugen Kienzler hatte die Coronazeit genutzt, um in seinem Familienbuch „Es war einmal – Vier Generationen und eine Geschichte“Erinnerungen niederzuschreiben. Darin auch ein Abschnitt „Dorf im Wandel“, den er in seiner Lesung in den Fokus setzte. „Bis vor wenigen Jahrzehnten bedeutete Dorfleben eine überschaubare, festgefügte Lebens- und Arbeitswelt mit übereinstimmenden Wertvorstellungen und Normen. Mit abnehmender agrarischer Orientierung und vermehrter Mobilisierung glichen sich Arbeitsalltag und Lebensgewohnheiten immer mehr den urbanen, städtischen Lebensweisen an. Das Dorf als in sich geschlossene Welt zerbröckelte“so die Ouvertüre seiner Lesung.
Die Kommunikations- und Veranstaltungszentren ihrer Zeit waren die Wirtshäuser. Für die dörfliche Gemeinschaft, in der man mehr als heute aufeinander angewiesen war, waren Genossenschaften oder genossenschaftsähnliche Strukturen wie die Dreschereigenossenschaft, Gefrierund Backgemeinschaft, der Viehversicherungsverein und die Molkereigenossenschaft wichtig. Schule und Erziehung waren Bereiche, die mehr als vieles andere einen Wandel vollzogen haben. Von der einklassigen Volksschule, in der das Lernen fürs Leben mehr als die Wissensvermittlung im kognitiven Bereich im Vordergrund stand, bis zur heutigen vielgliedrigen Schulform war ein interessanter Weg.
Auch wenn Freizeit bei weitem nicht die Bedeutung wie heute hatte und „Work-Life-Balance“unbekannt war, spielten das abendliche „Bänklesitzen“im Sommer, das Hochstuben und Anlässe wie der Milchzahltag oder die sonntägliche Einkehr eine große Rolle, bei denen die sozialen Kontakte gepflegt, aber auch der Ratsch und Tratsch fröhliche Urstände feierten. Genauso wichtig war das Vereinsleben, in Bolstern die Feuerwehr,
der Kirchenchor und der Liederkranz, später der Sportverein und der Heimat- und Narrenverein, das insbesondere der Jugend die Möglichkeit bot, möglichst früh in die Erwachsenenwelt einzutreten und damit auch im Wirtshaus dabei sein zu dürfen.
Mit der Gemeindereform 1974/75 endete die selbstständige Gemeinde Bolstern, die wie die anderen Teilorte zur Stadt Saulgau kamen.
Ein wichtiger Schritt auf dem weiteren Weg der Entwicklung vom klassischen Bauerndorf zum offenen Wohnen und Leben mit seinen Veränderungen. So manches zustimmende Nicken und Schmunzeln der Besucher, der große Beifall und die anschließende rege Unterhaltung zeigte, dass es Karin Mutschler und Eugen Kienzler bei ihren Lesungen gelang, sie mitzunehmen.