Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
Wie Polizisten Horror-Bilder verarbeiten
Mordopfer und schlimme Unfälle belasten auch Polizeibeamte – Wenn die Tränen fließen
- Bei tragischen Unglücken sind auch Polizisten stark gefordert. Sie gehören mit zu den ersten an einem Unfallort oder an einem Tatort und sind mit oft schwer zu verarbeitenden Szenen konfrontiert. Situationen wie beispielsweise der Unfall mit drei verunglückten 18-Jährigen im Juli 2021 bei Bad Waldsee, der Berger Mordfall im Sommer 2016, der Dreifachmord von Untereschach 2016, Angriffe auf Polizeibeamte oder der tragische Unfall in der Brühlstraße in Ravensburg am Fasnetssamstag, bei dem ein 25-jähriger Fußgänger tödlich verunglückte, können belastend sein. Auch wenn es zur traurigen Realität der Beamten gehört, nehmen sie Bilder im Kopf von der Arbeit mit nach Hause, die traumatisieren können.
„Wir haben immer Taschentücher dabei, denn in manchen Gesprächen fließen auch die Tränen“, sagt Daniel Matutis. Der Polizeihauptkommissar ist beim Polizeipräsidium Ravensburg für die psychosoziale Betreuung der Beamten zuständig und kennt viele Geschichten seiner Kolleginnen und Kollegen. Er ist kein Psychologe, aber oft der erste Ansprechpartner für sein Kollegium. „Wir gehen tatsächlich aktiv auf unsere Kolleginnen und Kollegen zu, wenn wir glauben, dass eine Situation belastend gewesen sein könnte und sind quasi die Ersthelfer. Deswegen werden wir auch Kümmerer genannt“, so Matutis.
Mit „wir“meint er ein kleines Team von drei hauptamtlichen und drei nebenamtlichen Betreuern, die sich um die psychosoziale Betreuung kümmern. Jeden Tag scannen sie die Tätigkeitsberichte im Bereich des Polizeipräsidiums Ravensburg. Dazu zählen neben dem Landkreis Ravensburg der Bodenseekreis und der Landkreis Sigmaringen. Wenn sie in den Berichten einen tragischen Unfall finden oder Todesfälle, rufen sie auf dem zuständigen Revier an und sprechen mit den zuständigen Beamten.
„Im ersten Gespräch findet man dann schnell heraus, ob eine weitere Betreuung notwendig ist. Manchmal folgen weitere Gespräche, oder ein Fall wird in der Gruppe aufbereitet. Ein anderes Mal braucht es gar keine Betreuung oder wir vermitteln weiter in eine Therapie“, sagt der Hauptkommissar.
Das Thema Psychotherapie ist in der Gesellschaft immer noch stigmatisiert, auch wenn es sichtbarer wird, wie die langen Wartelisten bei den Praxen zeigen. „Wir haben Therapeuten an der Hand, an die wir weitervermitteln können und bei denen man schnell einen Platz bekommt“, sagt Matutis. Wichtig sei jedoch das niederschwellige Angebot, damit die Beamten sich öffnen können. Daniel Matutis erklärt das so: „Wir sind alle Kollegen und wir haben genau so Leichen gesehen wie sie. Da fällt es auch leichter, miteinander ins Gespräch zu kommen als direkt zum Psychologen zu gehen.“
Die Anzahl der Gespräche bei der psychosozialen Betreuung steigt. Allein im Jahr 2022 gab es 622 Gespräche, von denen allerdings manche nur eine Kontaktaufnahme waren, auf die keine weiteren Gespräche folgten. Zum Vergleich: Im Bereich des Polizeipräsidiums Ravensburg gibt es 1200 Mitarbeiter. Acht Kollegen hat Matutis und sein Team an einen Therapeuten weitervermittelt.
Warum die Anzahl der Gespräche steigt, kann viele Gründe haben. Während es früher nur einen hauptamtlichen Betreuer gab, sind es heute drei – plus die drei nebenamtlichen. Außerdem ist die Gesellschaft sensibilisiert für psychisch belastende Themen, und das Angebot von Matutis und seinen Kollegen hat sich herumgesprochen. Auf internen Veranstaltungen weisen sie auch auf die Thematik hin.
Denn, wie Matutis berichtet, gab es bei der Polizei in BadenWürttemberg lange kein solches Betreuungsprogramm. Geändert habe sich das erst nach 2002 beim Flugzeugabsturz von Überlingen. Während es bei der Bundeswehr, Feuerwehr und beim Roten Kreuz schon entsprechende Angebote gegeben habe, habe es das bei der Polizei nicht gegeben.
Welche Themen für welche Personen belastend sind, ist höchst individuell. „Beim einen ist der gescheiterte Reanimationsversuch belastend, der für jemand anders nicht so schlimm ist wie die Überbringung einer Todesnachricht, weil man da direkt mit dem Leid der Hinterbliebenen konfrontiert wird“, so Matutis.
Dennoch gibt es Situationen, die für die meisten Polizisten eine Belastung darstellen. Und das ist, wenn geschossen wird oder gar Beamte angegriffen werden. Allein 2022 verzeichnete das Polizeipräsidium Ravensburg in seinem Bereich 296 Angriffe oder Widerstand gegenüber Polizisten. 101 Beamte wurden sogar verletzt. „Das macht was mit den Kollegen“, sagt Polizeisprecher Christian Sugg. Wenn so etwas passiere, beschäftige das alle Kollegen.
Vor allem betroffen seien Kollegen vom Kriminaldauerdienst oder der Verkehrspolizei, die häufig mit schlimmen Unfällen konfrontiert sind. Wie Sugg berichtet, gab es 2022 insgesamt 31 tödliche Unfälle, und im vergangenen Jahr waren es mit 39 deutlich mehr. Zudem seien auch Polizisten betroffen, die im Bereich der Kinderpornografie ermitteln und während ihrer Arbeit schreckliche Bilder sehen.
Manchmal sei es auch sinnvoll, eine Einsatznachbereitung zu machen. Dabei bringe man alle Beteiligten an einen Tisch und spreche den Einsatz vom Notruf bis zum Abschluss durch. Es sei gut, wenn die betroffenen Beamten in schwierigen Situationen verstünden, dass sie eine normale Reaktion auf ein anormales Ereignis haben.
„Im ersten Gespräch
findet man dann schnell heraus, ob eine weitere Betreuung
notwendig ist.“Hauptkommissar Daniel Matutis