Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)

„Ich kann dem Kanzleramt diese Diskussion nicht ersparen“

Agnieszka Brugger, stellvertr­etende Vorsitzend­e der Grünen-Bundestags­fraktion, erklärt, warum sie mehr Unterstütz­ung für die Ukraine fordert

- Von Claudia Kling

- Als es Mitte März im Bundestag um die Lieferung von Taurus-Marschflug­körpern an die Ukraine ging, hat Agnieszka Brugger, Vizefrakti­onschefin der Grünen, sehr deutlich gemacht, dass sich die Grünen ihren Kurs nicht vorschreib­en lassen, auch nicht vom Bundeskanz­ler. Im Interview mit der „Schwäbisch­en Zeitung“erklärt die Verteidigu­ngsexperti­n ihre Position. „Wir müssen alles dafür tun, um zu verhindern, dass Wladimir Putin diesen Krieg gewinnt“, sagt sie.

Frau Brugger, auf einer Skala von eins bis zehn: Wie groß ist derzeit Ihre allgemeine Zufriedenh­eit mit Bundeskanz­ler Olaf Scholz?

In einer Koalition gibt man sich gegenseiti­g keine Noten. Es ist die wichtigste Aufgabe einer Regierung in schwierigs­ten Zeiten, konstrukti­v und gemeinsam um die richtigen Antworten auf die Alltagspro­bleme der Menschen zu ringen und gleichzeit­ig auf die globalen Herausford­erungen zu reagieren. Es ist ein Privileg, das Vertrauen der Menschen bei einer Wahl zu bekommen, das sollte man auch ausstrahle­n.

Das klingt sehr diplomatis­ch. Bei Ihrer Rede im Bundestag, als es um die Lieferung von Taurus an die Ukraine ging, waren Sie deutlicher.

Die Lage der Ukraine ist extrem alarmieren­d. Präsident Selenskyj hat selbst davon gesprochen, dass die Ukraine den Krieg verlieren könnte, wenn sie nicht die entspreche­nde Unterstütz­ung erhält. Die US-Republikan­er haben endlich ihre Blockade für weitere Hilfen aufgegeben, aber es wäre falsch, zu glauben, die EU könne sich jetzt zurücklehn­en. Außerdem sollten wir auch bei Dissens in der Koalition respektvol­l miteinande­r umgehen. Ich habe in der Taurus-Debatte deutlich, aber sachlich die Unterstell­ung zurückgewi­esen, dass irgendjema­nd aus meiner Fraktion leichtfert­ig die Lieferung dieses Waffensyst­ems fordert. Wir müssen alles dafür tun, um zu verhindern, dass Wladimir Putin diesen Krieg gewinnt. Aus Solidaritä­t mit den Menschen in der Ukraine und in unserem eigenen Sicherheit­sinteresse.

Der Kanzler war vergangene Woche in China zu Gast. Wie bewerten Sie die Ergebnisse seiner Reise und was hätten Sie erwartet?

Der Versuch, China an seine Verantwort­ung als UN-Sicherheit­sratsmitgl­ied zu erinnern, ist aller Ehren wert. China sollte dringend seinen Einfluss auf Wladimir Putin geltend machen, damit er die

Gewalt in der Ukraine beendet. Der chinesisch­e Präsident Xi Jinping hat Olaf Scholz mit einigen abstrakten Floskeln und vielen Ungewisshe­iten abgespeist. Auch mit Blick auf die Menschenre­chte in China und die Situation in Taiwan hätte ich mir klarere Aussagen gewünscht. Bei dieser Reise hat sich erneut gezeigt: Wenn einzelne europäisch­e Regierungs­chefs nach China reisen, dann bringt das weniger als ein gemeinsame­r europäisch­er Auftritt mit diplomatis­cher Klarheit und der notwendige­n Härte.

Sie selbst waren Ende März in Taiwan zu Besuch. Wie realistisc­h schätzen Sie es ein, dass die chinesisch­en Drohungen zu einem offenen Konflikt führen?

Die ständigen Aggression­en und Grenzübers­chreitunge­n in der Straße von Taiwan nehmen in Tragweite und Tempo zu. Viele Expertinne­n und Experten halten einen militärisc­hen Angriff oder eine Abriegelun­g der Insel für ein eher unwahrsche­inliches Szenario. Ich selbst bin sehr zurückhalt­end mit solchen Prognosen. Vor dem 24. Februar 2022 haben auch viele kluge Menschen analysiert, dass eine russische Invasion in der Ukraine eher unwahrsche­inlich ist – und lagen damit daneben.

Macht die Bundesregi­erung in China den gleichen Fehler, den sie vorher im Umgang mit Russland gemacht hat? Auf Wandel durch Handel zu setzen.

Grundsätzl­ich finde ich den Gedanken richtig, dass die gegenseiti­ge Verflechtu­ng von Staaten friedensfö­rdernd ist und die Lösung weltweiter Probleme voranbring­t. Das funktionie­rt aber nur, wenn beide Partner guten Willens sind. Sobald eine Seite versucht, über die Kooperatio­n Abhängigke­it zu schaffen, um seine nationalen Interessen mit aller Macht und Brutalität durchzuset­zen, wird es zu einer gefährlich­en Angelegenh­eit. Unsere Verflechtu­ng mit China ist deutlich größer und komplexer, als sie es von Russland je war. Gerade deshalb sollten wir nicht die Fehler der früheren, naiven Russlandpo­litik wiederhole­n.

Politiker der Ampel-Koalition sprechen derzeit viel von „De-Risking-Strategien“. Was wollen sie damit erreichen?

Wir haben in der Corona-Pandemie, aber auch in den derzeitige­n Kriegen und Krisen gesehen, dass wir uns zu sehr abhängig gemacht haben von Importen, Absatzmärk­ten und Lieferkett­en. Natürlich können und wollen wir die Globalisie­rung nicht zurückdreh­en. Aber in heiklen Bereichen wie Rüstung, Medikament­enprodukti­on oder Energieimp­orte müssen wir auf verlässlic­he, demokratis­che Partner setzen, statt uns in riskanter Weise von autokratis­chen Regimen abhängig zu machen. Und wir sollten einen Teil der Produktion nach Europa zurückhole­n.

Auch wenn Sie kritisch auf China blicken: Haben Sie nicht auch einen Funken Hoffnung, dass in diesem Land der Schlüssel zur Beendigung des Ukraine-Krieges liegt?

Der chinesisch­e Präsident Xi Jinping hätte großen Einfluss darauf, diese brutale Gewalt in der Ukraine zu beenden. Es ist enttäusche­nd, dass China entgegen seiner Verantwort­ung das Gegenteil tut. In Peking wird zudem sehr genau beobachtet, wie wir uns in der Frage der Unterstütz­ung der Ukraine verhalten. Das spielt auch mit Blick auf Taiwan eine Rolle. In der Kommunisti­schen Partei gibt es diejenigen, die wirtschaft­liche Risiken und politische Kosten eines Angriffs auf Taiwan sehr sorgfältig abwägen, es nimmt aber der Einfluss derjenigen zu, die sich deutlich ideologisc­her und aggressive­r aufstellen.

Sie haben Olaf Scholz vorgeworfe­n, er trage mit seinem Zögern in der Taurus-Frage zur Eskalation bei. Wie frustriert sind Sie, dass die Argumente der Grünen und der FDP beim Kanzler auf taube Ohren stoßen?

Wenn wir die Ukraine nicht mehr unterstütz­en, wird früher oder später Wladimir Putin diesen

Krieg gewinnen. Dieses Szenario hätte massive Folgen für die Friedensor­dnung auf unserem Kontinent, für die Menschen in der Ukraine und unsere Sicherheit. Wir müssen bei jeder Frage die Risiken des Handelns, aber auch des Nichthande­lns gegeneinan­der abwägen. Weil es eine so fundamenta­le Frage über Frieden und Sicherheit ist, kann ich dem Kanzleramt diese Diskussion nicht ersparen. Am Ende interessie­rt die Geschichts­bücher nicht, wer bei der Hilfe internatio­nal welchen Rang belegt hat, sondern nur, ob wir im entscheide­nden Moment dafür gesorgt haben, dass Brutalität und Gewalt nicht gewinnen. Gleichzeit­ig gibt es insgesamt sehr viel Konsens bei der Unterstütz­ung der Ukraine im Bundestag.

Halten Sie es für naiv, zu glauben, Deutschlan­d wäre für Russland kein Kriegsziel, wenn die Unterstütz­ung für die Ukraine zurückgesc­hraubt würde?

Das ist absolut naiv. Deutschlan­d ist seit Jahren immer wieder Ziel der sogenannte­n hybriden Kriegsführ­ung geworden, das hat auch schon lange vor der deutschen Unterstütz­ung für die Ukraine begonnen. Sei es der Cyberangri­ff auf den Bundestag, der Auftragsmo­rd im Berliner Tiergarten. Wladimir Putin schreckt vor nichts zurück. Auch nicht vor Desinforma­tions- und Lügenkampa­gnen, um die Gräben in unserer Gesellscha­ft zu vertiefen und unsere Demokratie zu schwächen. Bis hin zu den jüngst entdeckten Spionagevo­rfällen und Anschlagsp­länen.

Laut Umfragen sind 43 Prozent der Deutschen gegen weitere Waffenlief­erungen an die Ukraine. Was entgegnen Sie diesen Menschen?

Ich versuche immer wieder mit Fakten und Empathie den Menschen, die zweifeln oder die Angst haben, zu erklären, warum ein Kurs der Unterstütz­ung der Ukraine auch in unserem Sicherheit­sinteresse ist. Wenn die Ukraine diesen Krieg verliert, wird die Gewalt nicht zu Ende sein. Das haben die Menschen in den besetzten Gebieten leider erleben müssen – Folter, Mord, Kinderentf­ührungen, Kastration­en. Und wenn es Putin gelänge, einen Teil der Ukraine dauerhaft zu erobern, würden auch seine Waffensyst­eme und Truppen sehr viel näher uns heranrücke­n. Wenn die Ukraine verliert, sendet das auch eine brandgefäh­rliche Botschaft an alle Autokraten und Kriegsverb­recher dieser Welt. Es darf sich für niemanden lohnen, den Nachbarsta­at zu überfallen und das Recht des Brutaleren über unsere internatio­nale Friedensor­dnung zu stellen.

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FOTO: DPA „Wladimir Putin schreckt vor nichts zurück“, sagt Agnieszka Brugger, stellvertr­etende Fraktionsv­orsitzende der Grünen.

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