Schwäbische Zeitung (Bad Saulgau)
„Ich kann dem Kanzleramt diese Diskussion nicht ersparen“
Agnieszka Brugger, stellvertretende Vorsitzende der Grünen-Bundestagsfraktion, erklärt, warum sie mehr Unterstützung für die Ukraine fordert
- Als es Mitte März im Bundestag um die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine ging, hat Agnieszka Brugger, Vizefraktionschefin der Grünen, sehr deutlich gemacht, dass sich die Grünen ihren Kurs nicht vorschreiben lassen, auch nicht vom Bundeskanzler. Im Interview mit der „Schwäbischen Zeitung“erklärt die Verteidigungsexpertin ihre Position. „Wir müssen alles dafür tun, um zu verhindern, dass Wladimir Putin diesen Krieg gewinnt“, sagt sie.
Frau Brugger, auf einer Skala von eins bis zehn: Wie groß ist derzeit Ihre allgemeine Zufriedenheit mit Bundeskanzler Olaf Scholz?
In einer Koalition gibt man sich gegenseitig keine Noten. Es ist die wichtigste Aufgabe einer Regierung in schwierigsten Zeiten, konstruktiv und gemeinsam um die richtigen Antworten auf die Alltagsprobleme der Menschen zu ringen und gleichzeitig auf die globalen Herausforderungen zu reagieren. Es ist ein Privileg, das Vertrauen der Menschen bei einer Wahl zu bekommen, das sollte man auch ausstrahlen.
Das klingt sehr diplomatisch. Bei Ihrer Rede im Bundestag, als es um die Lieferung von Taurus an die Ukraine ging, waren Sie deutlicher.
Die Lage der Ukraine ist extrem alarmierend. Präsident Selenskyj hat selbst davon gesprochen, dass die Ukraine den Krieg verlieren könnte, wenn sie nicht die entsprechende Unterstützung erhält. Die US-Republikaner haben endlich ihre Blockade für weitere Hilfen aufgegeben, aber es wäre falsch, zu glauben, die EU könne sich jetzt zurücklehnen. Außerdem sollten wir auch bei Dissens in der Koalition respektvoll miteinander umgehen. Ich habe in der Taurus-Debatte deutlich, aber sachlich die Unterstellung zurückgewiesen, dass irgendjemand aus meiner Fraktion leichtfertig die Lieferung dieses Waffensystems fordert. Wir müssen alles dafür tun, um zu verhindern, dass Wladimir Putin diesen Krieg gewinnt. Aus Solidarität mit den Menschen in der Ukraine und in unserem eigenen Sicherheitsinteresse.
Der Kanzler war vergangene Woche in China zu Gast. Wie bewerten Sie die Ergebnisse seiner Reise und was hätten Sie erwartet?
Der Versuch, China an seine Verantwortung als UN-Sicherheitsratsmitglied zu erinnern, ist aller Ehren wert. China sollte dringend seinen Einfluss auf Wladimir Putin geltend machen, damit er die
Gewalt in der Ukraine beendet. Der chinesische Präsident Xi Jinping hat Olaf Scholz mit einigen abstrakten Floskeln und vielen Ungewissheiten abgespeist. Auch mit Blick auf die Menschenrechte in China und die Situation in Taiwan hätte ich mir klarere Aussagen gewünscht. Bei dieser Reise hat sich erneut gezeigt: Wenn einzelne europäische Regierungschefs nach China reisen, dann bringt das weniger als ein gemeinsamer europäischer Auftritt mit diplomatischer Klarheit und der notwendigen Härte.
Sie selbst waren Ende März in Taiwan zu Besuch. Wie realistisch schätzen Sie es ein, dass die chinesischen Drohungen zu einem offenen Konflikt führen?
Die ständigen Aggressionen und Grenzüberschreitungen in der Straße von Taiwan nehmen in Tragweite und Tempo zu. Viele Expertinnen und Experten halten einen militärischen Angriff oder eine Abriegelung der Insel für ein eher unwahrscheinliches Szenario. Ich selbst bin sehr zurückhaltend mit solchen Prognosen. Vor dem 24. Februar 2022 haben auch viele kluge Menschen analysiert, dass eine russische Invasion in der Ukraine eher unwahrscheinlich ist – und lagen damit daneben.
Macht die Bundesregierung in China den gleichen Fehler, den sie vorher im Umgang mit Russland gemacht hat? Auf Wandel durch Handel zu setzen.
Grundsätzlich finde ich den Gedanken richtig, dass die gegenseitige Verflechtung von Staaten friedensfördernd ist und die Lösung weltweiter Probleme voranbringt. Das funktioniert aber nur, wenn beide Partner guten Willens sind. Sobald eine Seite versucht, über die Kooperation Abhängigkeit zu schaffen, um seine nationalen Interessen mit aller Macht und Brutalität durchzusetzen, wird es zu einer gefährlichen Angelegenheit. Unsere Verflechtung mit China ist deutlich größer und komplexer, als sie es von Russland je war. Gerade deshalb sollten wir nicht die Fehler der früheren, naiven Russlandpolitik wiederholen.
Politiker der Ampel-Koalition sprechen derzeit viel von „De-Risking-Strategien“. Was wollen sie damit erreichen?
Wir haben in der Corona-Pandemie, aber auch in den derzeitigen Kriegen und Krisen gesehen, dass wir uns zu sehr abhängig gemacht haben von Importen, Absatzmärkten und Lieferketten. Natürlich können und wollen wir die Globalisierung nicht zurückdrehen. Aber in heiklen Bereichen wie Rüstung, Medikamentenproduktion oder Energieimporte müssen wir auf verlässliche, demokratische Partner setzen, statt uns in riskanter Weise von autokratischen Regimen abhängig zu machen. Und wir sollten einen Teil der Produktion nach Europa zurückholen.
Auch wenn Sie kritisch auf China blicken: Haben Sie nicht auch einen Funken Hoffnung, dass in diesem Land der Schlüssel zur Beendigung des Ukraine-Krieges liegt?
Der chinesische Präsident Xi Jinping hätte großen Einfluss darauf, diese brutale Gewalt in der Ukraine zu beenden. Es ist enttäuschend, dass China entgegen seiner Verantwortung das Gegenteil tut. In Peking wird zudem sehr genau beobachtet, wie wir uns in der Frage der Unterstützung der Ukraine verhalten. Das spielt auch mit Blick auf Taiwan eine Rolle. In der Kommunistischen Partei gibt es diejenigen, die wirtschaftliche Risiken und politische Kosten eines Angriffs auf Taiwan sehr sorgfältig abwägen, es nimmt aber der Einfluss derjenigen zu, die sich deutlich ideologischer und aggressiver aufstellen.
Sie haben Olaf Scholz vorgeworfen, er trage mit seinem Zögern in der Taurus-Frage zur Eskalation bei. Wie frustriert sind Sie, dass die Argumente der Grünen und der FDP beim Kanzler auf taube Ohren stoßen?
Wenn wir die Ukraine nicht mehr unterstützen, wird früher oder später Wladimir Putin diesen
Krieg gewinnen. Dieses Szenario hätte massive Folgen für die Friedensordnung auf unserem Kontinent, für die Menschen in der Ukraine und unsere Sicherheit. Wir müssen bei jeder Frage die Risiken des Handelns, aber auch des Nichthandelns gegeneinander abwägen. Weil es eine so fundamentale Frage über Frieden und Sicherheit ist, kann ich dem Kanzleramt diese Diskussion nicht ersparen. Am Ende interessiert die Geschichtsbücher nicht, wer bei der Hilfe international welchen Rang belegt hat, sondern nur, ob wir im entscheidenden Moment dafür gesorgt haben, dass Brutalität und Gewalt nicht gewinnen. Gleichzeitig gibt es insgesamt sehr viel Konsens bei der Unterstützung der Ukraine im Bundestag.
Halten Sie es für naiv, zu glauben, Deutschland wäre für Russland kein Kriegsziel, wenn die Unterstützung für die Ukraine zurückgeschraubt würde?
Das ist absolut naiv. Deutschland ist seit Jahren immer wieder Ziel der sogenannten hybriden Kriegsführung geworden, das hat auch schon lange vor der deutschen Unterstützung für die Ukraine begonnen. Sei es der Cyberangriff auf den Bundestag, der Auftragsmord im Berliner Tiergarten. Wladimir Putin schreckt vor nichts zurück. Auch nicht vor Desinformations- und Lügenkampagnen, um die Gräben in unserer Gesellschaft zu vertiefen und unsere Demokratie zu schwächen. Bis hin zu den jüngst entdeckten Spionagevorfällen und Anschlagsplänen.
Laut Umfragen sind 43 Prozent der Deutschen gegen weitere Waffenlieferungen an die Ukraine. Was entgegnen Sie diesen Menschen?
Ich versuche immer wieder mit Fakten und Empathie den Menschen, die zweifeln oder die Angst haben, zu erklären, warum ein Kurs der Unterstützung der Ukraine auch in unserem Sicherheitsinteresse ist. Wenn die Ukraine diesen Krieg verliert, wird die Gewalt nicht zu Ende sein. Das haben die Menschen in den besetzten Gebieten leider erleben müssen – Folter, Mord, Kinderentführungen, Kastrationen. Und wenn es Putin gelänge, einen Teil der Ukraine dauerhaft zu erobern, würden auch seine Waffensysteme und Truppen sehr viel näher uns heranrücken. Wenn die Ukraine verliert, sendet das auch eine brandgefährliche Botschaft an alle Autokraten und Kriegsverbrecher dieser Welt. Es darf sich für niemanden lohnen, den Nachbarstaat zu überfallen und das Recht des Brutaleren über unsere internationale Friedensordnung zu stellen.