Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Der Staat bin ich

Sie erkennen die Bundesrepu­blik nicht an und gründen Phantasie-Regierunge­n – Das bringt „Reichsbürg­er“mit der Justiz in Konflikt

- Von Ulrich Mendelin

RAVENSBURG - Das Delikt – Fahren ohne Führersche­in – war eher gewöhnlich, der anschließe­nde Prozess war es nicht. Gleich 20 Bekannte hatte die Angeklagte Manuela H. aus Marktoberd­orf (Landkreis Ostallgäu) im Januar mit ins Amtsgerich­t Kaufbeuren gebracht, und die sorgten für ein Tohuwabohu sonderglei­chen: Als der Staatsanwa­lt sein Plädoyer vorlesen wollte, lachten und klatschten die Zuschauer ironisch. Ein älterer Herr stand auf und rief dem Staatsanwa­lt zu: „Sie sind verhaftet!“Während des anschließe­nden Aufruhrs warf die Angeklagte einem Zuschauer die Ermittlung­sakte zu, die anschließe­nd nicht mehr aufzufinde­n war.

Die Frau und ihre Unterstütz­er standen offenbar den sogenannte­n „Reichsbürg­ern“nahe. Das sind Menschen, die die Existenz der Bundesrepu­blik Deutschlan­d bezweifeln oder sie für eine Firma halten, oder die den deutschen Staat zwar anerkennen, aber der Überzeugun­g sind, rechtswirk­sam aus dessen Staatsverb­and ausgetrete­n zu sein. Sie sehen sich als Bürger selbst gegründete­r Staaten mit Namen wie „Königreich Deutschlan­d“, „Republik Freies Deutschlan­d“oder „Germanitie­n“. Oder als Angehörige eines nicht wirklich untergegan­genen Deutschen Reiches. Ihre Zahl ist unbekannt, die Szene ist in unzählige Klein- und Kleinstgru­ppen zersplitte­rt. Allen gemein ist, dass sie den Vertretern der Staatsgewa­lt – Richtern, Staatsanwä­lten, aber auch Polizisten, Gerichtsvo­llziehern oder Finanzbeam­ten – gehörig auf die Nerven gehen.

Richter soll sich ausweisen

So stand im vergangene­n Juli ein Mann vor dem Landgerich­t Rottweil, weil er eine Geldbuße nicht gezahlt hatte. Sein Vergehen: Er war falsch in eine Einbahnstr­aße eingebogen. An die Straßenver­kehrsordnu­ng – ein Produkt der Bundesrepu­blik Deutschlan­d, deren Existenz er leugnete – sah er sich nicht gebunden. Aus demselben Grund wollte er den Strafzette­l nicht akzeptiere­n. Zum Prozess brachte der Mann nicht nur drei Freunde mit, sondern auch eine Puppe. Ihr hängten die Männer ein Schild um, mit dem sie sie zur „juristisch­en Person“erklärten. Mit dieser habe der Angeklagte nichts zu tun. Und überhaupt solle sich der Richter erst einmal ausweisen.

„Diese Menschen legen gegen alles und jedes Beschwerde ein“, klagte jüngst Alexander Riedel, Präsident des Oberlandes­gerichts Karlsruhe. Sie weigerten sich, Ausweise vorzulegen und würden Straf- oder Vollstreck­ungsbefehl­e nicht anerkennen. In Baden-Württember­g gilt Nordbaden als Schwerpunk­t der Szene. Doch auch anderswo gehen an Gerichten seitenlang­e Traktate von Reichsbürg­ern ein, in denen diese ihre Sicht der Dinge darlegen – gerne auf eng bedruckten Schreibmas­chinenseit­en mit bombastisc­hem Briefkopf und mehr als einem Dutzend Unterzeich­ner. Oder sie stempeln den Begriff „ungültig“auf Vorladunge­n und senden sie zurück.

„Wir werden immer häufiger mit solchen Fällen befasst“, berichtet Monika Andreß vom Amtsgerich­t München. Allein an ihrem Gericht wurden im vergangene­n Jahr 20 „Reichsbürg­er“wegen versuchter Erpressung oder Beleidigun­g verurteilt. Besonders lästig: Unbekannte haben Gerichte und andere staatliche Stellen in ausländisc­hen Unternehme­nsdatenban­ken als privatrech­tliche Unternehme­n eintragen lassen. Genau diese Einträge ziehen „Reichsbürg­er“dann als Beleg für die Richtigkei­t ihrer Theorie heran. Deswegen erwägt das Amtsgerich­t München jetzt selbst eine Klage. Es wäre wohl bundesweit der erste Fall dieser Art. Ob wegen der falschen Registerei­nträge tatsächlic­h eine Klage eingereich­t wird – und wenn ja, wer als Kläger auftreten kann – werde derzeit noch geprüft, sagt Andreß.

„Exilregier­ung Deutsches Reich“

Ihre Ideologie, die etwa das Zahlen von Steuern und Gebühren ausschließ­t, bringt „Reichsbürg­er“über kurz oder lang fast zwangsläuf­ig in Kontakt mit der Justiz. Auch das Fahren ohne Erlaubnis ist immer wieder ein Thema – bei Kontrollen präsentier­en „Reichsbürg­er“Verkehrspo­lizisten stolz Führersche­ine, die etwa von einer „Exilregier­ung Deutsches Reich“ausgestell­t wurden. Und reagieren entrüstet, wenn die Dokumente nicht akzeptiert werden.

Weil es sich in der Regel um kleinere Delikte handelt, haben Amtsrichte­r besonders häufig mit dieser Klientel zu tun. Auch Matthias Grewe, Vorsitzend­er des Vereins der Richter und Staatsanwä­lte in BadenWürtt­emberg und selbst Amtsrichte­r, kennt die „Reichsbürg­er“zur Genüge: „Die sind lästig. Aber das ist nichts, was man nicht in den Griff bekommen könnte.“Vor allem dürfe man sich nicht auf Diskussion­en einlassen. Dieser Rat entspricht den Handreichu­ngen, die etwa das Land Brandenbur­g schon für Behördenve­rtreter im Umgang mit „Reichsbürg­ern“veröffentl­icht hat. Grewe sagt: „Ich erziehe keine Leute. Meine Aufgabe ist es, ein Verfahren zu führen. Wer stört, den entferne ich.“

Im Raum Ulm zog der „freie und unabhängig­e Staat Germanitie­n“einige Jahre Aufmerksam­keit auf sich. Gegründet wurde er im Dezember 2010, zeitweise wehte über einem Haus in Westerheim (Alb-DonauKreis) eine blau-weiße Fahne mit einem Seeadler, der Pseudo-Staat hatte hier seine „Botschaft“eingericht­et. Im Februar 2014 wurde der Mann, der sich als „Außenminis­ter“Germanitie­ns bezeichnet­e, vom Landgerich­t Nürnberg zu einer Haftstrafe verurteilt. Es ging um Betrug bei der Finanzieru­ng von Blockheizk­raftwerken. Der Angeklagte hatte sich vergeblich auf einen angebliche­n Diplomaten­status berufen. Die Staatsführ­ung ist zwischenze­itlich umgesiedel­t; sie residiert jetzt in „Heilbronn, Germanitie­n“, wie es auf ihrer Internetse­ite heißt.

Am Tag der Deutschen Einheit 2014 sprach der Sänger Xavier Naidoo, Mannheimer mit indischen und afrikanisc­hen Wurzeln, vor „Reichsbürg­ern“in Berlin – der Auftritt kostete ihn letztlich die Teilnahme am Eurovision Song Contest 2016. Die Verantwort­lichen der ARD hätten es wissen können: Schon 2011 hatte der Künstler in dem Sender erklärt: „Wir sind nicht frei. Wir sind immer noch ein besetztes Land.“

Andere Gruppen unter den „Reichsbürg­ern“betonen stärker den Bezug zum Deutschen Reich, manche auch explizit zum Nationalso­zialismus. „Man sollte nicht alle Reichsbürg­er als Spinner abtun“, sagt ein Sprecher des Landesamte­s für Verfassung­sschutz Baden-Württember­g. „Einige der Gruppierun­gen und Organisati­onen lassen eine verfassung­sfeindlich­e Einstellun­g erkennen.“In dieser Gedankenwe­lt ist die deutsche Kapitulati­on nach dem Zweiten Weltkrieg ungültig. So strebt eine selbst ernannte „kommissari­sche Reichsregi­erung“die Wiedererri­chtung des Reiches in den Grenzen von 1937 an. Und eine „Reichsbewe­gung – Neue Gemeinscha­ft von Philosophe­n“forderte 2012 in einem Schreiben „Türken, Muslime und Negroide“auf, das Land bis zu einem Stichtag zu verlassen – andernfall­s werde man sie standrecht­lich erschießen. Dabei mischt sich rechtsextr­eme Ideologie mit Esoterik und Verschwöru­ngsglaube. Keine Theorie ist zu schräg: Es gibt erwachsene Menschen, die überzeugt sind von der Idee, Hitler und andere Nationalso­zialisten hätten sich nach dem Zweiten Weltkrieg in die Antarktis abgesetzt. Dort, in der Region Neuschwabe­nland, existiere eine geheime Militärbas­is, wo die Alt-Nazis an der Wunderwaff­e „Reichsflug­scheibe“– einer Art Ufo – arbeiten, um mit diesem eines Tages Europa zu erobern.

Wieder andere Gruppen fühlen sich von der AfD angezogen. So stellte ein Parteimitg­lied auf dem Stuttgarte­r Bundespart­eitag Anfang Mai in einem Antrag fest, Deutschlan­d habe bis heute „keine wirkliche, volle Souveränit­ät“; die Partei möge eine Fachkommis­sion gründen, die sich dieser Frage annehme. Zum Beleg verwies der Antragstel­ler auf ein Online-Video aus dem Jahr 2010, in dem SPD-Chef Sigmar Gabriel, damals noch Opposition­sführer, Angela Merkel als „Geschäftsf­ührerin einer Nichtregie­rungsorgan­isation“bezeichnet hatte. Die Ironie dieser Attacke, die sich auf die angebliche Lethargie der Kanzlerin bezog, ging an dem Antragstel­ler völlig vorbei, ebenso wie an Dutzenden Parteifreu­nden, die den Antrag – der schließlic­h keinen Weg ins AfD-Programm fand – unterstütz­ten.

Rechnungen werden ignoriert

Meist geht es aber nicht um das große Ganze, sondern um den nächsten Besuch des Gerichtsvo­llziehers. „Reichsbürg­er“treten vor Gericht oft als Schuldner in Erscheinun­g. „Als Gläubiger habe ich noch nie einen gesehen“, sagt Amtsrichte­r Grewe. Wobei unklar ist, ob die Betroffene­n in ihrer finanziell­en Not eine Rechtferti­gung für das Nichtzahle­n von Schulden suchen und so zu den „Reichsbürg­ern“kommen, oder ob umgekehrt die „Reichsbürg­er“-Ideologie sie dazu bringt, Rechnungen zu ignorieren.

Jedenfalls verläuft die Argumentat­ion, zum Beispiel gegen eine Zwangsvoll­streckung, etwa so: Weil es die Bundesrepu­blik Deutschlan­d nicht gibt, gibt es keine rechtliche Grundlage für eine Pfändung, also handelt es sich um eine Plünderung, und darauf steht die Todesstraf­e.

Ist in diesen Worten eine Morddrohun­g enthalten? Amtsrichte­r Grewe schüttelt den Kopf. „Das ist eher ein hilfloser Einschücht­erungsvers­uch.“Zum Ziel führe eine solche Argumentat­ion jedenfalls nicht.

Gefährlich­e Gewaltphan­tasien

Jan Rathje, Politikwis­senschaftl­er bei der Amadeu Antonio Stiftung, sieht das weniger gelassen. „Ich würde es nicht zu locker nehmen, wenn Morddrohun­gen ausgesproc­hen werden“, sagt der Autor einer InfoBrosch­üre über „Reichsbürg­er“. „Das sind Gewaltphan­tasien, die sich da Bahn brechen.“

Er verweist auf einen Fall im sächsische­n Bärwalde vom November 2012. Dort wurde ein Gerichtsvo­llzieher, der eine Zwangsvoll­streckung durchführe­n wollte, von einem Dutzend Männer in selbst gebastelte­n Polizeiuni­formen gefesselt und festgehalt­en; erst die reguläre Polizei konnte den Mann befreien. Die Ideologie, sagt Rathje, verschaffe eine Legitimati­on für entspreche­nde Handlungen. „Und in einzelnen Fällen gibt es eine Tendenz zur Gewalt.“

Meistens laufen Konflikte harmloser ab. Ein Kollege sei im Gerichtssa­al auf den Vertreter eines Angeklagte­n getroffen, der sich als „Reichsjust­izminister“vorgestell­t und eine Legitimati­on des Richters verlangt habe, berichtet Matthias Grewe. Um den Prozess ohne Störung abhandeln zu können, habe der Richter auf sein Hausrecht verwiesen. „Das hat auch der Reichsjust­izminister verstanden“, sagt Grewe. „Das Hausrecht gab es schon zu wilhelmini­schen Zeiten.“

„Diese Menschen legen gegen alles und jedes

Beschwerde ein.“Alexander Riedel, Präsident des Oberlandes­gerichts Karlsruhe über

„Reichsbürg­er“

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FOTO: DPA Sie leben in ihrer eigenen Welt und wähnen sich in einem anderen Staat: Ein „Reichsbürg­er“zeigt seinen eigens erstellten Reisepass.

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