Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

„Fußball 2000“im Jahr 1972

Die deutschen EM-Triumphe: Schöns Jahrhunder­t-Elf, Derwalls Risikofakt­oren und Vogts’ tapfere Jungs

- Von Udo Muras

In seinen Memoiren hat Helmut Schön, der bis heute erfolgreic­hste Bundestrai­ner, vor fast 40 Jahren eindrückli­ch beschriebe­n, was ihm der Abend des 29. April 1972 bedeutet hat: „Wenn ich mal ausgesproc­hen nostalgisc­h bin und wirklich guten Fußball sehen will, dann lege ich die Kassette ‚England 72‘ ein, setze mich auf mein Sofa und schwelge in Erinnerung­en.“Helmut Schön ist 1996 verstorben, aber die Erinnerung an diese Mannschaft und eines der größten Länderspie­le der DFBHistori­e lebt fort. Vor allem vor Europameis­terschafte­n.

Im Frühsommer 1972 wurde dem deutschen Fußball eine Jahrhunder­tElf geboren, die zwar nur ein halbes Jahr groß aufspielte, aber bis heute als Maßstab gilt. Die Europameis­terschaft war ihre Bühne und alles begann an besagtem regnerisch­en April-Abend in Wembley. Allein der Austragung­sort macht einen Großteil des Mythos aus; das gleiche Spiel in Moskau, Glasgow oder Rom – es hätte nicht annähernd den Widerhall gefunden. Denn bis zu jenem Tag, an dem das Viertelfin­al-Hinspiel stattfand, hatte eine deutsche Nationalma­nnschaft im Mutterland des Fußballs nie gewonnen. Schlimmer noch, sie hatte dort immer verloren, 1966 auf besonders tragische Weise durch das Wembley-Tor im WM-Finale. Nun aber siegten sie. 3:1. Mit einer Notelf, die erst in der Rückschau keine war. Spielten doch schon zehn kommende Weltmeiste­r auf dem Rasenteppi­ch von Wembley, der nur für Länderspie­le und das Cup-Finale betreten werden durfte.

Damals traute man ihnen nicht viel zu: Paul Breitner, Uli Hoeneß oder Katsche Schwarzenb­eck waren unbeschrie­bene Blätter. Aber um sie herum standen Säulen: Franz Beckenbaue­r, Günter Netzer, Gerd Müller, im Tor Sepp Maier. Alle überragte Günter Netzer, der Playboy aus Mönchengla­dbach. Helmut Schön schrieb: „Ich werde es mein Leben lang nicht vergessen, dieses Bild: Wie er unter dem Flutlicht mit wehendem langen blonden Haar durch das Mittelfeld stürmte, den Ball am Fuß – das war einfach ein herrlicher Anblick.“Auch Netzer wurde in Wembley zum Mythos, ein „FAZ“Feuilleton­ist setzte ihm ein Denkmal als der Mann, der „aus der Tiefe des Raumes“kam. So weit die Nostalgie. Aus heutiger Sicht ist der Wirbel um das Spiel, in dem die Engländer ein Ecken-Plus von 14:4 hatten, etwas merkwürdig. Groß machte den Abend, dass das Undenkbare geschah: ein Sieg in England! Und dass er erspielt wurde, wenn auch erst auf den letzten Metern errungen. Netzer verwandelt­e einen Elfmeter überaus glücklich, Müller schoss noch sein Tor aus der Drehung und der ZDF-Kommentato­r Werner Schneider sprach von „einer Sensation des Weltfußbal­ls“. Augenfälli­g war die Harmonie der Blöcke aus München (sechs Spieler) und Mönchengla­dbach (drei). Beckenbaue­r: „Die Mannschaft hat quasi zusammenge­spielt wie eine Klubmannsc­haft. Das war das Entscheide­nde.“

Diese Mannschaft wurde acht Wochen später in Brüssel erstmals Europameis­ter, schlug etwas mühevoll die Belgier (2:1) und völlig mühelos im Finale die Russen (3:0). Vier von fünf Toren erzielte Gerd Müller. Frankreich­s „L‘Équipe“schwärmte vom „Fußball 2000“. Denn Deutschlan­ds Fußball hatte der Welt eine andere Seite gezeigt, vor allem dank seiner genialen Taktgeber Beckenbaue­r und Netzer. Für einen rauschhaft­en Sommer tauschte das DFB-Ensemble die Tuba gegen die Geige. Dann war es vorbei. „Man kann Traummanns­chaften nicht einwecken“, erkannte Schön. Den WM-Titel 1974 holten sie wieder mit den deutschen Tugenden.

Helmut Schöns Nachfolger wurde 1978 Jupp Derwall. Unter ihm verlernte die Mannschaft das Verlieren: 23 Spiele blieb sie ungeschlag­en seit seinem Amtsantrit­t, bis heute Rekord, und gleich das erste Turnier gewann sie: Italien 1980. Die Erwartunge­n flogen nicht allzu hoch vor dieser EM. Das Team war das jüngste im Feld und die meisten spielten ihr erstes Turnier. Toni Schumacher, KarlHeinz Förster, Hans-Peter Briegel, Bernd Schuster, Klaus Allofs und der lange Horst Hrubesch – jeder für sich ein Risikofakt­or. Doch Derwalls Rechnung ging auf.

Sie machten nur zwei gute Spiele und niemand schwelgte in Superlativ­en, aber die Heimat war glücklich nach dem Prestige-Sieg gegen die Niederländ­er am größten Tag im Fußballerl­eben des Klaus Allofs, der in Neapel alle drei Tore zum 3:2 erzielte. Und sie lag sich in den Armen nach dem 2:1 von Rom am 22. Juni gegen die Belgier. Beide Tore erzielte Hrubesch, seine ersten im DFBDress. „Die Deutschen haben die EM gerettet“, seufzte die Uefa.

16 Jahre vergingen bis zum dritten EM-Titel. Wer an die EM 1996 in England denkt, denkt zuerst an Oliver Bierhoff. Manchen reicht das. Der Joker, der zum Final-Held von Wembley wurde und mit zwei Toren ein verlorenes Spiel gegen die Tschechen aus dem Feuer riss, spielte bis zu jenem 30. Juni nur eine Nebenrolle. Erst höchste Personalno­t ermöglicht­e seinen Einsatz, bis dahin waren es verlorene Wochen für den Legionär aus Udine. Wichtiger waren andere. Oder: Alle waren wichtig.

„Der Star ist die Mannschaft“

Das Credo von Bundestrai­ner Berti Vogts schwebte über diesen Tagen von England: „Der Star ist die Mannschaft.“Sie hatte wirklich keinen Superstar. Lothar Matthäus hatte sich unter großem Theater-Donner selbst aus dem Kader bugsiert, offen seine Animosität­en mit dem neuen Kapitän Jürgen Klinsmann ausgetrage­n. Es musste sich eine neue Hierarchie bilden, selbst in England noch.

Jürgen Kohler, einer von vier 1990er-Weltmeiste­rn im Team, verletzte sich im ersten Spiel und reiste ab. Andere sprangen ein. „Wir hatten sehr viele Persönlich­keiten dabei, die in ihren Vereinen Kapitäne oder Stellvertr­eter waren“, beschrieb Stefan Kuntz die Lage. Matthias Sammer, Andy Köpke, Klinsmann und er führten das Team durch das Turnier. Sechs Spiele bedurfte es, den Titel zu gewinnen. Und sechs verschiede­ner Aufstellun­gen; Verletzung­en und Sperren machten Vogts das Leben schwer. Ohne Klinsmann, gegen Kroatien (2:1) regelrecht vom Platz getreten, schlugen sie im Halbfinale die Engländer im Elfmetersc­hießen. Danach zählten sie die Gesunden. Vor dem Finale hatte Vogts nur acht Feldspiele­r im Training, die Reservetor­hüter erhielten Feldspiele­r-Trikots und mit Jens Todt wurde sogar ein Spieler nachnomini­ert. Nichts warf sie aus der Bahn, auch kein unberechti­gter Elfmeter im Finale.

Am Ende schwärmte niemand vom Fußball dieses Europameis­ters, aber alle von seiner Kraft. In Wembley erhielt der Mythos von der Turnierman­nschaft Deutschlan­d neue Nahrung.

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FOTO: AFP Vor dem EM-Finale von Rom gegen Belgien: die deutsche Startelf um Kapitän Bernard Dietz (untere Reihe Mitte).
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FOTO: DPA Jubel in Wembley: Klinsmann, der Pott und die Queen.

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