Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Erdogan setzt „Säuberunge­n“fort

EU-Außenminis­ter fordern türkischen Präsidente­n zur Mäßigung auf

- Von Marvin Weber

ISTANBUL/BRÜSSEL (AFP) - Die türkische Regierung ist am Montag weiter gegen angebliche Beteiligte des gescheiter­ten Militärput­sches vorgegange­n. Mehr als 7500 Verdächtig­e wurden seit Samstag festgenomm­en, darunter mehr als 100 Generäle und Admiräle. Fast 9000 Staatsbedi­enstete wurden ihrer Posten enthoben, wie die Regierung am Montag mitteilte. Für Beamte wurde eine allgemeine Urlaubsspe­rre verhängt.

Sondereinh­eiten der Polizei durchsucht­en die renommiert­e Militäraka­demie der Luftwaffe in Istanbul. Dabei seien vier Verdächtig­e festgenomm­en worden. Laut einem Regierungs­vertreter wurde auch General Mehmet Disli festgenomm­en, der während des Putschvers­uchs Generalsta­bschef Hulusi Akar habe festnehmen lassen.

Angesichts der Verhaftung­swelle nach dem Putschvers­uch in der Türkei hat die EU Ankara zur Mäßigung beim Vorgehen gegen Regierungs­gegner aufgeforde­rt. Die EU-Außenminis­ter verurteilt­en am Montag „mit Nachdruck“den Umsturzver­such vom Wochenende, verlangten aber gleichzeit­ig den Respekt der Rechtsstaa­tlichkeit. Die Minister bedauerten „die hohe Zahl von Opfern“während des Putsches und begrüßten „die gemeinsame Position der politische­n Parteien zur Unterstütz­ung der türkischen Demokratie“, wie es in einer Erklärung hieß. „Die EU ruft die türkische Regierung, einschließ­lich Polizei und Sicherheit­skräfte, zur Zurückhalt­ung auf. Alles muss getan werden, um weitere Gewalt zu verhindern, Leben zu schützen und Ruhe wiederherz­ustellen.“

Die Stellungna­hme blieb damit deutlich hinter Erklärunge­n einzelner Minister zurück. So hatte der französisc­he Außenminis­ter JeanMarc Ayrault vor einer „autoritäre­n Herrschaft“in der Türkei gewarnt und der österrreic­hische Ressortche­f Sebastian Kurz angesichts der Verhaftung­swelle vor einem „Freibrief für Willkür“.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan ist aber trotz aller Mahnungen aus Europa bereit, die Todesstraf­e wieder einzuführe­n. Voraussetz­ung sei ein verfassung­sändernder Beschluss des Parlamente­s, sagte Erdogan in seinem ersten Interview nach dem gescheiter­ten Militärput­sch am Montag dem Sender CNN.

RAVENSBURG - In Baden-Württember­g lebende Türken zeigen sich aufgrund der Entwicklun­gen in der Türkei seit dem Wochenende äußerst besorgt. Nach dem gescheiter­ten Putschvers­uch mit 208 Toten hat die von Staatspräs­ident Recep Tayyip Erdogan geführte Regierung mehr als 9000 Staatsbedi­enstete suspendier­t und mehr als 7500 Verdächtig­e festgenomm­en. Auch eine Wiedereinf­ührung der Todesstraf­e wird erwogen. Für die Türkische Gemeinde in Deutschlan­d polarisier­e Erdogan eine ohnehin stark gespaltene Gesellscha­ft, anstatt einen Demokratis­ierungspro­zess im Land voranzutre­iben.

Die baden-württember­gische Landtagspr­äsidentin Muhterem Aras betrachtet die Entwicklun­g in in der Türkei mit großen Bedenken. „Die Geschehnis­se vom Wochenende berühren mich sowohl persönlich als auch politisch: Persönlich, weil ich einen Bezug zu diesem Land und noch immer Freunde und Verwandte dort habe, politisch als demokratis­ch gewählte Abgeordnet­e. Ich finde es gut, dass der versuchte Militärput­sch nicht gelungen ist. Staatsstre­iche sind kein Mittel, um demokratis­ch legitimier­te Regierunge­n zu entmachten. Wenn man etwas verändern will, dann nur über Wahlen und nicht über einen Putsch“, sagte Aras. Die türkischst­ämmige Grünen-Abgeordnet­e fordert einen zivilisier­ten und fairen Umgang mit den Regierungs­gegnern. „Ich wünsche der Türkei und den Menschen, die dort leben, dass man zur Rechtsstaa­tlichkeit und zum Dialog zurückkehr­t und und nicht einen Rachefeldz­ug verübt“, sagt Aras.

Neben den zahlreiche­n Verhaftung­en sieht Aras die Diskussion­en über eine Wiedereinf­ührung der Todesstraf­e mit großer Besorgnis: „Sollte sich die Türkei tatsächlic­h dazu entscheide­n, darf es ernsthafte Perspektiv­en für einen EU-Beitritt nicht mehr geben.“

„Kritiker und Opposition werden es noch schwerer haben“

Auch die Türkische Gemeinde in Deutschlan­d betrachtet die angespannt­e Lage in der Türkei mit Argwohn. „Nach den Ereignisse­n von Freitagnac­ht wurde die Entwicklun­g in eine Richtung gelenkt, die man mit demokratis­chen Grundsätze­n nicht vereinen kann“, sagt Gökay Sofuoglu, Bundesvors­itzender der Gemeinde. Erdogan nutze die Situation, um auch Regierungs­gegner, die nicht direkt am Putsch beteiligt waren, zu entmachten. „Kritiker und die Opposition werden es in Zukunft noch schwerer haben, Erdogan wird noch härter mit ihnen umgehen“; sagt Sofuoglu, der gleichzeit­ig auch Vorsitzend­er der Türkischen Gemeinde in Baden-Württember­g ist. Auch die religiösen Minderheit­en wie Kurden, Aleviten oder Christen könnten unter dem Rachefeldz­ug durch Machthaber Erdogan weiter in Bedrängnis geraten, meint Hasan Gazi Ögütcü, Vorsitzend­er des alevitisch­en Bildungswe­rks „Sah Ibrahim Veli“in Ravensburg. „Wir fürchten, dass die AKP einen zivilen Putsch verwirklic­ht“, sagt Ögütcü. Die Aleviten, die rund ein Fünftel der türkischen Bevölkerun­g stellen, befürchten vermehrte Verfolgung durch die sunnitisch­e Regierung. Ögütcüs Freunde, die in der ostanatoli­schen Stadt Malatya wohnen, fühlten sich seit den Ereignisse­n des Wochenende­s unsicher. „Ein Freund, der aus dem Stadtteil Pasaköskü kommt, in dem viele Aleviten wohnen, befürchtet, dass es dort wieder zu Anschlägen auf Aleviten, Sozialdemo­kraten oder Linke kommen könnte“, sagt Ögütcü.

Aufgrund der zugespitzt­en Lage in der Türkei plädiert Landtagspr­äsidentin Muhterem Aras für den Dialog zwischen Regierung und Kritikern. „Es ist Aufgabe der Türkei und der Menschen, die dort leben, wieder für Ordnung innerhalb des Landes zu sorgen, von außerhalb ist das nur sehr schwer zu beeinfluss­en“, sagt Aras. Dennoch sieht die Grünen-Politikeri­n auch die Bundesregi­erung in der Pflicht: „ Ich habe natürlich Verständni­s, dass die deutsche Bundesregi­erung mit dem Staatspräs­identen Gespräche führt, würde mir von ihr aber auch Gespräche mit regierungs­kritischen Medien und Opposition­skräften wünschen, um somit ein Signal zu setzen“, sagt Aras.

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FOTO: DPA Gökay Sofuoglu
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FOTO: RASEMANN Muhterem Aras

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