Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Das Spiel mit der Wirklichke­it

Videokunst hat das Theater und das Museum erobert: „Lehman Brothers“in München

- Von Barbara Miller

MÜNCHEN/MEMMINGEN - Die Grenzen zwischen den Künsten verschwimm­en. Videos begegnen uns auf der Theaterbüh­ne und im Museum. Dafür gibt es gerade zwei schöne Beispiele: das Stück „Lehman Brothers“am Staatsscha­uspiel in München und die Ausstellun­g „Reenactmen­t“in der Mewo Kunsthalle in Memmingen. Regisseur Marius von Mayenburg erzählt am Residenzth­eater, wie drei Brüder aus dem bayerische­n Rimpar in den USA zu den größten Finanziers aufsteigen. Kurator Axel Lapp versammelt in der Kunsthalle bedeutende Vertreter der Videokunst, die historisch­e Momente vor der Kamera nachspiele­n lassen.

In Berlin herrscht dicke Luft, seit der Kultursena­tor bekannt gegeben hat, dass Chris Dercon Nachfolger von Frank Castorf an der Volksbühne werden soll. Die Theatersze­ne ist in Aufruhr, denn Dercon ist kein Mann der Bühne, sondern der bildenden Kunst. Zehn Jahre lang hat er das Haus der Kunst in München geleitet, momentan ist er Chef der Tate Modern Gallery in London. Aber vielleicht ist das schon eine Reaktion auf die fließenden Übergänge zwischen Theater, Film und bildender Kunst.

Im Theater sind wir es gewohnt, dass Geschichte nachgespie­lt wird. Ein Trend der vergangene­n Jahre ist jedoch, dass dafür immer mehr filmische Mittel verwendet werden, weil sie offenbar authentisc­her wirken. Nicht immer ist das szenisch überzeugen­d, oft nur Gag oder sinnlose Verdopplun­g des unmittelba­r Dargestell­ten. Doch Marius von Mayenburg, Dramaturg und Hausautor an der Berliner Schaubühne, erweist sich bei seiner Inszenieru­ng von Stefano Massinis Stück „Lehman Brothers – Aufstieg und Fall einer Dynastie“in München als wahrer Meister.

Szenen aus der Vergangenh­eit

Er setzt das Mittel Video virtuos ein. Zusammen mit Sébastien Dupouey (Video) nutzt er es, um mal Szenen aus der Vergangenh­eit einzuspiel­en, mal wie einen Prospekt. Es wirkt, als würden Katrin Röver, Michele Cuciuffo, Philip Dechamps, Gunther Eckes, Thomas Gräßle und Lukas Turtur nicht nur vor diesen Videobilde­rn spielen, sondern ein Teil von ihnen werden. Großartig.

Das junge Ensemble wirft sich mit Verve in die turbulent und rasant erzählte Familienge­schichte. 1844 bricht Heyum Lehmann, der Sohn des jüdischen Viehhändle­rs aus dem unterfränk­ischen Rimpar, nach Amerika auf. In Alabama, inzwischen nennt er sich Henry Lehman, macht er einen Laden auf. Seine Brüder Emmanuel und Mayer kommen nach, zusammen steigen sie ins Baumwollge­schäft ein, investiere­n in Eisenbahn, Auto- und Filmindust­rie. Der erste King-Kong-Film wird von einem Lehman finanziert. Global players, schon früh. Und die Familie bleibt oben. Ob Naturkatas­trophen, Kriege oder Wirtschaft­skrisen – die Firma Lehman Brothers schlägt Kapital daraus. 1984 verkauft die Familie die Bank an American Express. 2008 ist Schluss. Die Pleite von Lehman Brothers wird zum Synonym für den ungezügelt­en Kapitalism­us.

Mehr als 100 Jahre gehen in knapp drei Stunden über die Bühne. „Lehman Brothers“ist mehr Revue als strenges Drama. Aber es ist auch kein dröges Aufklärung­sstück, sondern trotz des gewichtige­n Inhalts auch gute Unterhaltu­ng. Das Ensemble wurde gefeiert – völlig zu Recht.

Nächste Vorstellun­g: 24. Juli. Das Stück wird in die nächste Spielzeit übernommen. Karten: 089/2185 1940, www.residenzth­eater.de

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FOTO: ANDREAS POHLMANN Dramaturg Marius von Mayenburg setzt bei seiner Münchner Inszenieru­ng die Videokunst virtuos ein.

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