Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Das Spiel mit der Wirklichkeit
Videokunst hat das Theater und das Museum erobert: „Lehman Brothers“in München
MÜNCHEN/MEMMINGEN - Die Grenzen zwischen den Künsten verschwimmen. Videos begegnen uns auf der Theaterbühne und im Museum. Dafür gibt es gerade zwei schöne Beispiele: das Stück „Lehman Brothers“am Staatsschauspiel in München und die Ausstellung „Reenactment“in der Mewo Kunsthalle in Memmingen. Regisseur Marius von Mayenburg erzählt am Residenztheater, wie drei Brüder aus dem bayerischen Rimpar in den USA zu den größten Finanziers aufsteigen. Kurator Axel Lapp versammelt in der Kunsthalle bedeutende Vertreter der Videokunst, die historische Momente vor der Kamera nachspielen lassen.
In Berlin herrscht dicke Luft, seit der Kultursenator bekannt gegeben hat, dass Chris Dercon Nachfolger von Frank Castorf an der Volksbühne werden soll. Die Theaterszene ist in Aufruhr, denn Dercon ist kein Mann der Bühne, sondern der bildenden Kunst. Zehn Jahre lang hat er das Haus der Kunst in München geleitet, momentan ist er Chef der Tate Modern Gallery in London. Aber vielleicht ist das schon eine Reaktion auf die fließenden Übergänge zwischen Theater, Film und bildender Kunst.
Im Theater sind wir es gewohnt, dass Geschichte nachgespielt wird. Ein Trend der vergangenen Jahre ist jedoch, dass dafür immer mehr filmische Mittel verwendet werden, weil sie offenbar authentischer wirken. Nicht immer ist das szenisch überzeugend, oft nur Gag oder sinnlose Verdopplung des unmittelbar Dargestellten. Doch Marius von Mayenburg, Dramaturg und Hausautor an der Berliner Schaubühne, erweist sich bei seiner Inszenierung von Stefano Massinis Stück „Lehman Brothers – Aufstieg und Fall einer Dynastie“in München als wahrer Meister.
Szenen aus der Vergangenheit
Er setzt das Mittel Video virtuos ein. Zusammen mit Sébastien Dupouey (Video) nutzt er es, um mal Szenen aus der Vergangenheit einzuspielen, mal wie einen Prospekt. Es wirkt, als würden Katrin Röver, Michele Cuciuffo, Philip Dechamps, Gunther Eckes, Thomas Gräßle und Lukas Turtur nicht nur vor diesen Videobildern spielen, sondern ein Teil von ihnen werden. Großartig.
Das junge Ensemble wirft sich mit Verve in die turbulent und rasant erzählte Familiengeschichte. 1844 bricht Heyum Lehmann, der Sohn des jüdischen Viehhändlers aus dem unterfränkischen Rimpar, nach Amerika auf. In Alabama, inzwischen nennt er sich Henry Lehman, macht er einen Laden auf. Seine Brüder Emmanuel und Mayer kommen nach, zusammen steigen sie ins Baumwollgeschäft ein, investieren in Eisenbahn, Auto- und Filmindustrie. Der erste King-Kong-Film wird von einem Lehman finanziert. Global players, schon früh. Und die Familie bleibt oben. Ob Naturkatastrophen, Kriege oder Wirtschaftskrisen – die Firma Lehman Brothers schlägt Kapital daraus. 1984 verkauft die Familie die Bank an American Express. 2008 ist Schluss. Die Pleite von Lehman Brothers wird zum Synonym für den ungezügelten Kapitalismus.
Mehr als 100 Jahre gehen in knapp drei Stunden über die Bühne. „Lehman Brothers“ist mehr Revue als strenges Drama. Aber es ist auch kein dröges Aufklärungsstück, sondern trotz des gewichtigen Inhalts auch gute Unterhaltung. Das Ensemble wurde gefeiert – völlig zu Recht.
Nächste Vorstellung: 24. Juli. Das Stück wird in die nächste Spielzeit übernommen. Karten: 089/2185 1940, www.residenztheater.de