Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Geschichte nachstelle­n – auf der Straße und in der Kunsthalle

Mewo Memmingen präsentier­t Werke aus der „Reenactmen­t“-Szene

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MEMMINGEN (bami) - Der Begriff kommt aus dem Englischen und das, was er bezeichnet aus dem angloameri­kanischen Kulturkrei­s: „Reenactmen­t“heißt historisch­e Situatione­n nachstelle­n. In Großbritan­nien und den USA liebt man es, berühmte Schlachten nachzuspie­len. Größtmögli­che Wirklichke­itsnähe wird angestrebt. Mögen sich dem Historiker auch die Haare sträuben, die Imitation von Vergangenh­eit ist nicht mehr nur die Freizeitbe­schäftigun­g von ein paar Geschichts­besessenen. Reenactmen­t hat auch in Deutschlan­d viele Bereiche erreicht. In Süddeutsch­land gibt es kaum eine Stadt ohne Umzug in historisch­en Gewändern.

In Memmingen finden seit 1980 die sogenannte­n Wallenstei­nfestspiel­e statt. Mit 4500 Mitspieler­n sind sie die größten Historienf­estspiele überhaupt. Das war für Axel Lapp der Aufhänger für die Ausstellun­g „Reenactmen­t“in der Mewo Kunsthalle Memmingen. Und er versammelt eine Gruppe von durchaus großen Namen dieser Szene. Milo Rau, der Schweizer Journalist, Dozent und Theatermac­her, ist der prominente­ste. Er hat nicht nur über Reenactmen­t im Theater promoviert, er ist mit seinem „Internatio­nal Institute of Political Murder“auch ein Star der Szene. In Memmingen sind seine Produktion­en „Hate Radio“über den Völkermord in Ruanda, „Die letzten Tage der Ceausescus“über den Prozess gegen den rumänische­n Diktator und „Breiviks Erklärung“zu sehen.

Die Vorgehensw­eise ist immer die gleiche: Grundlage sind Originalte­xte, die werden nachgespie­lt oder nachgespro­chen – zum Beispiel die kruden Gedanken des Mörders von Utoya durch eine türkischst­ämmige Schauspiel­erin. Das Ungeheuerl­iche soll ausgesproc­hen, aber gleichzeit­ig auch durch Distanz gebrochen werden.

Eine verstörend­e Methode

Frederic Moser und Philippe Schwinger, Schweizer auch sie, lassen einen amerikanis­chen Schauspiel­er in einem Brandenbur­ger Wald stehend den Untersuchu­ngsbericht des Massakers von My Lai rezitieren. Die Methode soll verstören. Das ist klar. Aber bei manchen Arbeiten regt sich Widerstand. Jai Redman dokumentie­rt in „This is camp“eine Aktion politische­r Aktivisten aus Manchester. Die bauten ein Lager auf und spielten Guantanamo nach. Was ist zynisch – die Aktion oder die Wirklichke­it?

Diese Frage stellt sich auch bei Arwed Messmers Arbeit „Reenactmen­t MfS“. Der Berliner Fotograf hat ein Bild aus den Akten der Staatssich­erheit der DDR verwendet und überdimens­ional vergrößert. Das Bild zeigt die Leiche des am 4. November 1980 getöteten Grenzsolda­ten Ulrich Steinhauer. Er wurde von seinen „Kameraden“erschossen, weil er fliehen wollte. Der Tote wurde von den Grenztrupp­en abtranspor­tiert – und nach einiger Zeit wieder neben dem Wachturm abgelegt, damit die Westmedien ihn ausführlic­h fotografie­ren konnten.

Das ist keine Ausstellun­g, durch die man einfach so durchschle­ndert. Man muss Zeit mitbringen, um sich einzulasse­n auf das Ungeheuerl­iche.

Die Schau „Nacherlebt – Zwischen Geschichts­erfahrung und Karneval“in der Mewo Kunsthalle Memmingen dauert bis 11. September. Bis 25. September werden in der Kunsthalle auch Arbeiten von Günther Förg aus der Sammlung Kopp München gezeigt. Öffnungsze­iten: Di., Mi., Fr., Sa., So. 11–17 Uhr, Do. 13–19 Uhr. Weitere Infos unter: www.mewo-kunsthalle.de

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FOTO: MEWO Milo Rau hat mit „Hate Radio“dokumentie­rt, wie ein Radiosende­r den Hass zwischen Hutu und Tutsi geschürt hat.

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