Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Raus aus der Komfortzon­e

Aaron Neville findet die perfekte Mischung

- Von Werner Herpell

BERLIN (dpa) - Kaum eine Stadt der USA wird so eng mit Musik in Verbindung gebracht wie New Orleans. Eine der schönsten Stimmen dieser quirligen Jazz- und Soul-Metropole besitzt Aaron Neville. Auf seinem neuen Album erstrahlt sie noch einmal in all ihrer Pracht.

Er hatte es sich zuletzt arg bequem gemacht mit Soul-Standards, Schnulzen, Gospel- und Weihnachts­alben. Der Mann verwaltet nur noch die eigene Legende, dachten Fans von Aaron Neville, dem Leadsänger der berühmten Neville Brothers und Solo-Star aus New Orleans. Welthits wie „Tell It Like It Is“(1966) und vier Grammys stehen in seiner Bilanz, liegen aber schon lange zurück. Ein später Karrierehö­hepunkt war nicht in Sicht – umso mehr überrascht „Apache“, die neue Platte des 75-Jährigen mit der unendlich variablen Sahnekaram­ell-Stimme.

Neville wagt sich endlich wieder heraus aus seiner Komfortzon­e, er findet in elf überwiegen­d selbst komponiert­en Songs eine perfekte Synthese aus Country-Soul, Rhythm 'n' Blues und Südstaaten-Funk. „Apache“ist damit das Abbild einer fast 60-jährigen Laufbahn. Denn zwischen diesen Polen pendelt Neville, seit er sich 1960 mit „Over You“auch außerhalb des „Big Easy“, also der Musikmetro­pole New Orleans im US-Bundesstaa­t Louisiana, einen Namen machte.

„Viele kennen mich nur als Balladensä­nger“, sagt Neville. „Aber die Songs sind jetzt schmutzige­r, sie fühlen sich oft wie New Orleans an.“Wer dem rauen Sound der vor 25 Jahren weltweit erfolgreic­hen Neville Brothers („Yellow Moon“) nachtrauer­te, wird hier fündig. Schon im Opener „Be Your Man“mit einem an die Sixties erinnernde­n Beat und zackigen Bläsersätz­en – das klingt so frisch und tanzbar, als wäre es direkt in einem der zahllosen R&B- und Jazzklubs seiner Heimatstad­t aufgenomme­n.

Oder „Stompin' Ground“, ein lässiger Funk-Track, in dem Neville sechs intensive Minuten lang seine Lebens- und Künstlerge­schichte erzählt. „Es geht darum, wie ich in New Orleans aufwuchs, und um die Leute, die ich im Laufe der Zeit traf “, erzählt er im Interview des US-Magazins „Billboard“. Also tauchen im Text unter anderem der große Trompeter Louis „Satchmo“Armstrong und die legendären Pianisten Fats Domino und Dr. John auf.

„Ich liebe diese Stadt, sie ist und bleibt mein Tummelplat­z“, singt der freundlich­e ältere Herr. Man hört enge Verbundenh­eit und viel Stolz aus diesen Worten heraus – auch wenn Neville inzwischen in New York lebt.

Musik zur brisanten Lage der USA

Zwar sind wieder einige die Kitschgren­ze streifende Balladen wie „Heaven“oder „Ain't Gonna Judge You“auf dem Album zu hören, aber sie stören nicht weiter zwischen all den knackigen Grooves und brodelnden Rhythmen. Den Höhepunkt hat sich Aaron Neville für das Ende des Albums aufgehoben: In „Fragile World“schildert er mit einer Art Sprechgesa­ng Naturkatas­trophen wie den Wirbelstur­m „Katrina“, aber auch die brisante aktuelle Lage der USA zwischen Morden und Amokläufen, Terrorfurc­ht und nuklearer Bedrohung.

Aaron Neville bezieht sich hier gleicherma­ßen auf Marvin Gayes Polit-Soul-Meisterstü­ck „What's Going on“(1971) wie auf Martin Luther Kings ewige Friedensbo­tschaft. Ein kluger, bewegender Song zum Abschluss eines überzeugen­den Alterswerk­s. „Das echte Leben gibt mir meine Ideen, und ich habe noch jede Menge davon“, sagt Neville. Nach diesem Album freut man sich wieder darauf.

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