Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Feuer, Frust und viele Fragen
Untersuchung zur Brandkatastrophe im Grenfell Tower beginnt
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LONDON - Mindestens 81 Menschen starben vor drei Monaten im Flammeninferno des Grenfell Towers. Heute beginnt in London eine öffentliche Untersuchung der Ursachen. Sie soll die Fragen klären, wie es zu diesem Unglück kommen konnte und wer dafür verantwortlich ist.
Eine hohe Metallmauer umgibt den schwarz in den Himmel ragenden, Kilometer weit sichtbaren Wohnblock. Noch immer werden sterbliche Überreste aus dem Massengrab geborgen, noch bis Jahresende sind Brandermittler vor Ort. Die Anwohner nennen den Grenfell Tower „das Krematorium“.
Viele Menschen sind schwer traumatisiert. Was die Überlebenden an Bildern mit sich herumtragen, könne man sich kaum vorstellen, sagt der anglikanische Ortspfarrer Alan Everett. Manche Menschen im Grenfell Tower sprangen in jener Nacht des
14. Juni in den Tod, da sie von Flammen eingeschlossen waren und jede Fluchtmöglichkeit versperrt war. „Die Leute schlagen sich mit Erinnerungen herum, die sie nicht vergessen können“, sagt Everett. Die Anwältin Victoria Vasey vom kostenlosen Rechtsberatungszentrum NKLC weiß von früheren Bewohnern, die bis heute übergangsweise in Hotelzimmern hausen und diese nicht verlassen, weil sie das Trauma noch nicht verwunden haben.
Dass nun eine Untersuchung beginnt, hält Vasey – wie viele Betroffene – für verfrüht. Überstürzt hatte Premierministerin Theresa May die unabhängige Prüfung angeordnet und als deren Leiter Martin MooreBick, 70, eingesetzt. In einem Zentral-Londoner Konferenzzentrum wird der pensionierte Richter am Appellationsgericht zum Auftakt seine Mission erläutern. Zudem geht es darum, der Regierung Vorschläge zu machen, wie solche Katastrophen in Zukunft verhindert werden können. Moore-Bick dürfte in gesetzten Worten wiederholen, was er den Bewohnern bei seinen ersten Begegnungen in wenig diplomatischer Offenheit verkündete: „Ich kann Ihnen nicht geben, was Sie wollen.“Was sich viele Grenfell-Opfer wünschen, ist eine gerechte Bestrafung der Täter, Anklagen wegen Totschlags oder wenigstens wegen fahrlässiger Tötung.
Aber gegen wen? Den mittlerweile zurückgetretenen Leiter des seit Jahrzehnten konservativ regierten Bezirks Kensington? Den Direktor der quasi-privaten Wohnungsverwaltung, mit der sich die Bezirksregierung das leidige Problem der Sozialwohnungen vom Hals zu halten versuchte? Die Handwerker, welche die Verkleidung aus Polyäthylen und Aluminium so einbauten, dass der Brand eines Kühlschranks im vierten Stock rasend schnell das gesamte Gebäude in Flammen hüllen konnte? Die Fassadenverkleidung war erst bei Renovierungsarbeiten 2015 und 2016 angebracht worden. Eine Untersuchung von 600 Hochhäusern im Auftrag der Regierung mit ähnlichen Fassaden zeigte: Der Grenfell Tower ist längst kein Einzelfall. Ein Gebäude nach dem anderen fiel bei den Tests durch. Es werde am Ende zu keinen Verurteilungen kommen, prophezeit der langjährige BBCRechtsexperte Joshua Rozenberg.
Warnung vor der Katastrophe
„Jeder wusste, dass es in dem Block Sicherheitsbedenken gab“, sagte eine junge Nachbarin. Missstände im sozialen Wohnungsbau sind nicht Gegenstand der Ermittlungen. Das ärgert viele Überlebende. Wiederholt hatte die Anwohner-Initiative Grenfell Action Group auf Sicherheitsmängel und marode Zustände im Hochhaus aufmerksam gemacht. „Nur ein katastrophales Ereignis wird das Unvermögen und die Inkompetenz unserer Vermieter entlarven“, warnte die Gruppe vor dem Unglück. Bewohner hatten auch das Fehlen von Sprinklern beklagt – lediglich zwei Prozent aller Sozialwohnungsblocks in England sind damit ausgerüstet – und den Mangel an Fluchtwegen angeprangert. Aber es geschah nichts. Unterdessen werden sowohl in Kensington wie in anderen sogenannten „Alphavierteln“der Hauptstadt immer neue Luxuswohnblöcke hochgezogen.