Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Das Diktat der Zeitumstellung
In der Nacht auf Sonntag wird die Uhr zurückgedreht – Ein wiederkehrender Unsinn, aber auch eine Illusion
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RAVENSBURG - Der Akt der Zeitumstellung ist von einer Natur, die nicht banaler sein könnte, ihre Wirkung aber bringt manche Menschen um den Verstand. Stellen Sie sich bitte einmal kurz vor: Sie sitzen in einer großen, menschengefüllten Halle, vorne hängt eine große Uhr. Dann kommt ein Herr rein und dreht den großen Zeiger um 360 Grad zurück, wodurch der kleine Zeiger sich um eine Einheit mitdreht. Das war’s. Ganz einfach. Mehr nicht. Die Leute verlassen die Halle und werden vor den Toren gefragt, was dieser schlichte Sekundenakt bei ihnen bewirkt habe, die meisten würden mit den Schultern zucken. Doch allmählich, vielleicht schon auf dem Nachhauseweg, würde sich bei einigen ein unruhiges Gefühl einstellen, Gedanken über die Folgen der Zeitverschiebung würden durch den Kopf schießen, womöglich der Körper bereits auf die eine oder andere Weise reagieren. Die Macht der Uhrzeit hätte sich langsam entfaltet, ausgelöst durch eine Handbewegung.
Depressionen und Müdigkeit
Das klingt überspitzt, doch zweimal im Jahr bringt das Ritual der Zeitumstellung erhebliche Folgen für manche Menschen mit sich, glaubt man Medizinern, Forschern und Statistikern, die im Vorfeld Warnungen aussprechen, als drohe eine Naturkatastrophe. Durch die Zeitumstellung erfahre der Organismus eine Art Jetlag, warnt beispielsweise die Deutsche Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin, vor allem Alte und Kinder seien betroffen, die innere Umstellung könne Tage, ja Wochen dauern. Typische Symptome seien Schlafstörungen und Müdigkeit, Gereiztheit und Appetitlosigkeit, Depressionen und Schwankungen der Herzfrequenz. Die Zahl der verschriebenen Schlafmittel steigt in den ersten Tagen nach der Zeitumstellung genauso deutlich an wie jene der Antidepressiva. Notaufnahmen haben mehr zu tun, die Zahl der Herzinfarkte nimmt um 25 Prozent zu und die der Verkehrsunfälle ebenfalls signifikant. Dazu kommen erhebliche Kosten der Umstellung in Industrie, IT-Welt und im Transportwesen. Auf den Punkt gebracht: Die Zeitumstellung ist blödsinnig, teuer und macht krank, deshalb lehnen sie 75 Prozent der Bevölkerung ab. Und machen doch bei dem Irrsinn mit.
Bei Einführung von Sommer- und Winterzeit 1980 war das Verständnis noch weit höher, sollte dadurch doch Energie gespart werden, Nachwehen der Ölkrise von 1973. Ein ähnliches Ansinnen hatte US-Präsident Benjamin Franklin („Time is Money“), der Ende des 18. Jahrhunderts die Aktivitäten des Alltags an die Hellphasen des Tageslichts anpassen wollte, um den Kerzenverbrauch zu reduzieren. Die erste echte Uhrumstellung war aber dem Deutschen Kaiserreich vorbehalten und ist somit ein Relikt aus monarchischen Zeiten. Auch im Ersten Weltkrieg wollten die Herrschenden durch eine Sommerzeit Energie und Rohstoffe sparen. Zumindest was die Umstellung von 1980 angeht, weiß man längst: Der
Plan schlug fehl. „Im Hinblick auf den Energieverbrauch bietet die Sommerzeit keinerlei Vorteile“, stellte die Bundesregierung schon 2005 fest. Und dreht seither trotzdem weiter an der Uhr.
Die Bundesregierung ist quasi Herrscherin über die Zeit, zumindest die Uhrzeit. Für die Zeitumstellung hat sie extra das „Gesetz über die Einheiten im Messwesen und die Zeitbestimmung“verabschiedet.
Verantwortlich ist das Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, es legt in Deutschland die Messund Zeitwerte fest. Ausführende Institution ist die Physikalisch-Technische Bundesanstalt mit Sitz in Braunschweig, sie passt auf, dass Stunden, Minuten und Sekunden ordnungsgemäß laufen, versorgt die Bürger mit Funksignalen. Anders: Die deutsche Zeit ist ein Produkt aus Braunschweig.
Das klingt nach viel Macht über Zeiger und Zeiten, die sich die Regierung aber teilen muss: mit der Europäischen Union (EU). Ausgerechnet, werden nun einige aufstöhnen, entscheidet Brüssel doch schon über krumme Gurken und fettige Pommes – und auch über unsere Uhrzeit? Ja, so ist es, so sagt die Bundesregierung über die Umstellung: „Für das weitere Funktionieren des EU-Binnenmarktes ist es von wesentlicher Bedeutung, dass Tag und Uhrzeit des Beginns und des Endes der Sommerzeit einheitlich in der Gemeinschaft festgelegt werden. Die Bundesregierung wird deshalb an der Sommerzeit festhalten ...“Gleichfalls lässt die EU verlauten, die Mitgliedsstaaten seien mit dem Status quo zufrieden. Da haben wir’s, einer reicht dem anderen den Schwarzen Peter. Um die Zeitumstellung abzuschaffen, müssten alle EU-Staaten dafür stimmen, anscheinend ein Ding der Unmöglichkeit.
Dabei rührt sich schon lange Widerstand gegen die Fummelei an den Uhrzeigern, Mediziner und Psychologen fordern die Abschaffung der Sommerzeit, andere wollen die Winterzeit verbannen, Petitionen werden eingereicht, Bürgerinitiativen sammeln Unterschriften, Politiker preschen vor, die FDP macht die Zeitenwende zum Thema bei den Jamaika-Sondierungen, die EU kündigte am Freitag einmal mehr Prüfungen an – und passieren wird wohl: nichts.
Tatsächlich fällt auf, dass nur wenige Tage nach der Umstellung der mediale Lärm um die Umstellung in Stille und Stillstand verpufft. Es ist, als ob der Mensch gegen ein Straßenschild läuft, sich eine mehr oder weniger dicke Beule holt, wieder aufsteht, weiterläuft, um nach einem halben Jahr wieder gegen das Schild zu knallen und so weiter. Die Literatin Sibylle Berg klagt in diesem Zusammenhang in einer Kolumne für „Spiegel-Online“über die „Schwierigkeit von Menschen, sich zu organisieren und zivilen Widerstand zu leisten“. Die Menschen, so Berg, „gehen zwar auf die Straße, wenn sie hassen, hungern oder um ihr Geld fürchten – aber leider nicht für Sinn“.
Ein „Mikroritual der Macht“
Auch wegen des am Ende doch verhaltenen Widerstandes plädiert der renommierte Zeitforscher Karlheinz Geißler (Institut timesandmore, München) zu einer gelassenen Haltung: „Man muss nur daran erinnern, wie das früher war: Vor etwas mehr als hundert Jahren mussten Lokführer und Eisenbahnpassagiere, die von Ulm nach Straßburg unterwegs waren, die Uhr viermal umstellen, um mit den jeweiligen Lokalzeiten synchron zu bleiben“, so Geißler zur „Schwäbischen Zeitung“. „Über Proteste und Aufregungen sind keine Informationen überliefert, und es gibt auch keine Berichte, dass die permanente Uhrumstellerei für die Reisenden eine Zumutung gewesen wäre.“Einen Nutzen in der Zeitumstellung sieht der Zeitforscher aber auch nicht. Die Uhrumstellung gehöre vielmehr „zu den paradoxen Interventionen der Politik“, sie sei eine Art „Herrschaftsritual“oder ein „Mikroritual der Macht“. „Die staatliche Exekutive nimmt für sich in Anspruch, über die Zeit-Spielregeln der Gesellschaft zu bestimmen und die Einhaltung des Entschiedenen zu kontrollieren.“
Dahinter steckt, laut Geißler, allerdings eine Illusion: „Es ist eine Uhr- und keine Zeitumstellung.“Genauso wenig wie sich die Temperatur umstellen lässt, wenn man von Celsius auf Fahrenheit oder umgekehrt wechselt. Oder verhalten sich Sonne, Mond und Sterne anders, weil die Bundesregierung nachts die Uhr um eine Stunde verstellt? Fliegen die Vögel in eine andere Richtung, weil die Bahnhofsuhr plötzlich anders tickt? Oder man könnte ebenso gut, wie man die Uhr umstellt, auch die Badezimmerwaage auf „Sommergewicht“umstellen. Am Ende ist dies vielleicht ein tröstender Gedanke: Die Zeit lässt sich nicht umstellen.