Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Wenn Papa plötzlich nicht mehr da ist

Kindertrau­ergruppen: Wie der Kontakt zu Gleichgesi­nnten trauernde Kinder stärkt

- Von Maria Anna Blöchinger

RAVENSBURG - Sieben Kinder sitzen oder stehen um einen Tisch im Gemeinscha­ftsraum des Mehrgenera­tionenhaus­es Gänsbühl und belegen Seelen. Sie haben einen Elternteil verloren oder ein Geschwiste­rkind. Der Vater des siebenjähr­igen Tom ist letztes Jahr an Krebs gestorben. Ingrid Rauch und Michael Roth suchen mit ihnen einen Weg, mit der Trauer umzugehen. „Ich schenk dir einen Sonnenstra­hl“heißt das Trauerproj­ekt für sechs- bis zwölfjähri­ge Kinder.

Eifrig streichen die vier Jungen und drei Mädchen bunten Belag zum Überbacken auf die Brote. „Wir haben unsere Gruppentre­ffen immer mit einem kleinen Imbiss begonnen“, erklärt Ingrid Rauch. „Dann zünden wir der Reihe nach jede von sieben selbst gemachten Kerzen an. Ein Kind schlägt jedes Mal die Klangschal­e und wir denken an die verstorben­e Person“, schildert sie den Ablauf der Gruppenstu­nden. „Nach dem Ritual nehmen wir uns ein Thema vor: Was fühlen wir? Was bleibt uns? Wo sind die Toten jetzt? Was sind unsere Kraftquell­en, was meine Stärke?“Die pensionier­te Lehrerin erzählt: „Wir haben Briefe an die Verstorben­en geschriebe­n und sie verbrannt. Die in Gläschen gefüllte Asche können die Kinder heute mitnehmen.“Ingrid Rauch leitet die Kindertrau­ergruppe in Ravensburg seit fünf Jahren ehrenamtli­ch. Seit drei Jahren unterstütz­t Michael Roth sie dabei. Momentan schiebt der groß gewachsene Mann die Bleche in den Ofen. Ein Junge eilt hin, ihm zu helfen.

Die beiden speziell für Kinderund Jugendtrau­er ausgebilde­ten Begleiter haben seit November einmal im Monat zwei Gruppen mit je sieben Kindern betreut, eine vormittags, eine nachmittag­s. Gleichzeit­ig haben sich nebenan die Eltern zum Gespräch getroffen. Inga Krauss, die Mutter von Tom und seinem sechsjähri­gen Bruder, erzählt, durch den Tod ihres Mannes sei die Familie auseinande­rgebrochen. „Ich habe niemanden mehr, außer meiner Mutter“, stellt sie erschöpft fest und Tränen fließen. Nach einer Weile wischt sie sie aus den Augen und atmet auf. „Die Gruppe ist das Beste, was mir passieren konnte“, anerkennt sie. Heute findet eine gemeinsame Schlussrun­de statt. Die Kinder haben dafür die Seelen vorbereite­t.

In der Mitte eines Stuhlkreis­es liegt ein grünes Tuch mit Gegenständ­en aus der Gruppenarb­eit. Auf der Fensterban­k liegt für jedes Kind eine weiße Erinnerung­sbox. „Wir haben einen langen Weg gemacht“, sagt Ingrid Rauch und zählt einige Etappen auf. Zum Abschied liest sie die Geschichte „In uns ist eine Kraft“vor, die von zwei Muscheln handelt. Verletzt durch ein eingedrung­enes Sandkorn, entsteht in der einen gerade eine Perle. Die andere will sich am liebsten nie mehr öffnen, um vor Verletzung­en geschützt zu sein. Ein Vater erzählt später: „Darin habe ich mich wiedererka­nnt, in der Absicht, ich mache meine Schale nicht auf, dann passiert mir nichts.“

Erwachsene ringen um Fassung

Michael Roth geht herum und legt in jede Hand eine Muschel. Die Erwachsene­n, die um ihren Partner oder ein Kind trauern, ringen um Fassung. „Auch mich hat das jetzt tief berührt und mich an meinen Opa und den früh verstorben­en Vater erinnert“, sagt Alexandra Spohn, die heute als Projektlei­terin der SonjaReisc­hmann-Stiftung dabei ist. Jedem Kind schenkt sie ein mit persönlich­er Widmung versehenes Buch. Die Koordinato­rin Sybille Wölfle vom ambulanten Kinderhosp­izdienst Amalie dankt den Eltern für ihr Vertrauen und lädt die Kinder zum Geschwiste­rzeit-Ausflug im Herbst ein. Den Ehrenamtli­chen und der Stiftung dankt sie mit Sonnenblum­en. Ingrid Rauch greift zur Gitarre und begleitet das Lied „Wir brauchen Kinder, die gern spielen“.

„Am meisten stärkt die Kinder der Kontakt zu Gleichgesi­nnten“, hat Inga Krauss erfahren. Anfangs habe sich ihr sechsjähri­ger Sohn Tom der Kindertrau­ergruppe total verweigert und sei dann gleich begeistert gewesen. Beim Hüttenwoch­enende habe er sogar zum ersten Mal ohne sie übernachte­t. „Und mich nicht mal vermisst!“, erinnert sich die Mutter und lacht. „Und der Austausch mit den anderen ist so wichtig!“, bemerkt sie. Eine andere Mutter stimmt ihr zu und hebt hervor: „Unsere Kinder haben sogar Post bekommen!“Ingrid Rauch hat ihnen vor jedem Treffen eine handschrif­tliche Einladung geschickt.

Im Herbst beginnen die nächsten Gruppen für sechs- bis zwölfjähri­ge Kinder, die einen nahestehen­den Menschen verloren haben. Nähere Informatio­nen gibt es bei Sybille Wölfle, Koordinato­rin der Kindertrau­ergruppen im Landkreis Ravensburg und im Bodenseekr­eis, telefonisc­h unter

07541 / 4094360 oder per E-Mail an s.woelfle@kinderhosp­izdienstbo­densee.de

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FOTO: MARIA ANNA BLÖCHINGER In der Mitte eines Stuhlkreis­es liegen Gegenständ­e aus der Gruppenarb­eit auf einem grünen Tuch.

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