Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Die volle Dosis Aufklärung
Impfen oder nicht impfen? Das ist nicht die einzige brennende Frage bei der Expertenrunde der „Schwäbischen Zeitung“
RAVENSBURG - Ist diese blonde und fast provozierend vital aussehende junge Frau aus der dritten Stuhlreihe so gesund, weil sie fast nicht geimpft ist? Oder ist sie nur deshalb nie groß krank gewesen, weil sie den Herdenschutz all jener Menschen genießt – manche würden sagen schmarotzt – die sich haben impfen lassen? Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Denn zu wissen, was von was kommt und zu glauben, was von was nicht kommt, das bleibt in der schwer ideologisch behafteten Diskussion um Sinn oder Unsinn von Impfungen unergründlich. Vielleicht erklärt es folgender Witz ganz gut: Kommt ein Mann, der ständig in die Hände klatscht, zum Arzt. Fragt der Arzt: „Warum klatschen Sie denn dauernd in die Hände?“Sagt der Mann: „Das vertreibt die Elefanten.“Meint der Doktor: „Aber hier gibt es doch gar keine Elefanten.“Darauf der Mann: „Da können Sie mal sehen, wie gut das Klatschen wirkt!“
Wird mit Impfungen also Krankheiten vorgebeugt, die es – wie fundamentalistische Impfgegner behaupten – gar nicht gibt und sind Impfungen damit schädlicher als die Krankheiten selbst, gegen die sie vorbeugen sollen? Fast 60 Menschen sind dem Aufruf der „Schwäbischen Zeitung“gefolgt, am Donnerstag ins Medienhaus zu kommen und die drei Experten in Sachen Impfung mit ihren Fragen aus der Reserve zu locken: Namentlich sind das Dr. Hans Bürger, Vorsitzender der Ravensburger Kreisärzteschaft, Prof. Dr. Günther Wiedemann, Chefarzt an der Oberschwabenklinik und Kinderarzt Dr. Frank Kirchner. Und das Trio braucht nicht lange auf erhobene Hände aus dem lebhaften Publikum zu warten. Moderator Hendrik Groth, Chefredakteur der „Schwäbischen Zeitung“, hat zeitweise sogar ein bisschen Mühe, Ordnung in die Wortmeldungen zu bringen, die mehrheitlich von Menschen kommen, die den unerschütterlichen Überzeugungen der medizinischen Fachleute teils eine gehörige Portion Skepsis entgegensetzen.
Die Mutter zweier Kinder, vier und zehn, fragt: „Warum müssen diese Impfungen so geballt sein?“Sie spricht damit die sechsfache Immunisierung an, die heute für Kleinkinder üblich ist. Warum nicht einzeln über Tetanus, Diphtherie, Keuchhusten, HiB, Hepatitis B und Kinderlähmung sprechen? „Es hinterlässt bei mir ein ungutes Gefühl, eigentlich keine Wahl zu haben“, sagt die Zuhörerin. Und Frank Kirchner als Kinderarzt antwortet: „Es ist möglich, das auch einzeln zu impfen. Aber wollen wir das?“Die Zeiten seien längst vorbei, in denen die Impfstoffe einzeln verabreicht worden seien. „Aus sehr guten Gründen“, wie der Mediziner betont. „Die häufigste Komplikation bei Impfungen sind Hautreaktionen an der Einstichstelle.“Davon abgesehen, dass Kinder von Spritzen grundsätzlich nicht begeistert seien, reduziere eine Sechsfach-Impfung dieses Risiko im Vergleich zu sechs einzeln verabreichten Dosen. „Sie sind bewährt, gut verträglich“und die Pharmaindustrie stelle nur das langfristig zur Verfügung, was auch nachgefragt werde – „und das ist nunmal mehrheitlich die Sechsfach-Impfung“, stellt Kirchner fest. Was manchem Zuhörer wiederum verdächtig vorkommt, denn seien es nicht am Ende die Mediziner selbst, die durch ihre Empfehlungen Entwicklungen in Sachen Impfen beeinflussen?
Reden – und nicht überreden
Allgemeinmediziner Hans Bürger ist zwar strikt gegen eine Impfpflicht – aber dennoch von den positiven Wirkungen der Immunisierung überzeugt: „Ich sehe das ganz pragmatisch“, sagt der Arzt ohne den Beiklang von Sendungsbewusstsein. Die Aufgabe von Ärzten sei es, über Impfungen aufzuklären. „Beraten, reden. Und wenn das nicht reicht, nochmal reden“, sagt Bürger, der zwischen Reden und Überreden aber eine klare Grenze zieht, denn: Impfen sei Privatsache. „Trotzdem hat das auch eine gesellschaftliche Komponente.“Nämlich den Schutz derer, die aufgrund eines geschwächten Immunsystems davon profitierten, wenn Geimpfte auch keine Überträger von Viren mehr seien.
„Am Ende ist es eigentlich ganz einfach“, erklärt Kirchner. Kaum etwas in der Wissenschaft sei derart gut untersucht und in der positiven Wirkung belegt, wie Impfungen. Als Beispiele nennt er die bei uns inzwischen ausgerotteten Pocken sowie Kinderlähmung. „Was aber ist mit den Zusätzen in den Impfungen? Mit Aluminium oder Hühnereiweiß? Ist das überhaupt rein?“, fragt ein junger Vater aus dem Publikum, den die Impfdebatte um seinen Sohn im eigenen Haus spürbar verunsichert. Darauf weiß Internist Günther Wiedemann eine Antwort: „Nur wenn Sie an einer sehr, sehr starken Hühnereiweißallergie leiden, könnte es Probleme geben.“Allerdings sei die außerordentlich selten. „Aber wenn ein Kind geimpft wird, weiß man doch gar nicht, ob es vielleicht eine starke Allergie hat“, sagt der Vater und ringt sichtlich mit der Expertenantwort. Kirchner bringt es auf folgende Formel: „Es ist immer eine Risikoabwägung.“Und Risiken, so ungern wir das als Gesellschaft hören wollten, gehörten nunmal zum Leben dazu. Und das Aluminium sei derart niedrig angereichert – allein der Verzehr von einer Tafel Schokolade übersteige es in einer Impfdosis um ein Vielfaches.
Im Reigen der Leserfragen geht es dann auch um die Grippe. Sinnvoll oder nicht? Bevor Kirchner und Bürger aus der Praxis berichten, lassen sie Zahlen sprechen. „Nicht irgendwo in Timbuktu, sondern hier“, betont Kirchner und sagt, dass es im vergangenen Jahr eine besonders schwere Erkrankungswelle gegeben habe – auch mit Toten im Landkreis Ravensburg. Wie viele, sei dabei nie genau zu bestimmen, denn es gelte, dass ältere Menschen oft nicht entsprechend untersucht würden, um die Todesursache Influenza zweifelsfrei festzustellen. Und wer soll sich nun impfen lassen? „Im Prinzip Menschen, die viel Kontakt haben“, sagt Bürger, und Wiedemann nickt. Egal ob Verkäuferin, Erzieherin, Arzt oder Lehrer und auch ab 60 sei die „sehr sichere und wirksame“Impfung zu empfehlen.
In der Pause schaut die Mutter zweier Kinder ein bisschen ratlos in den Saal, während Leser in Trauben die Experten umringen und im persönlichen
Vater im Publikum, der unsicher ist, wie er sein Kind schützen soll
Kontakt ihre Fragen loswerden oder ihre gelben Impfpässe vorzeigen. „Beim Impfen werden die Diskussionen immer gleich so grundsätzlich“, sagt sie und zuckt mit den Schultern. Bei ihrem älteren Sohn habe sie noch relativ konsequent durchgeimpft, bei ihrer jüngeren Tochter zögere sie noch. Schwanken, Verunsicherung. Die Überzeugungen von Impfgegnern und Impfbefürwortern ließen kaum Spielräume für einen gemeinsamen Nenner. „Und beide Seiten stehen gleich im Verdacht, sie handeln verantwortungslos.“Dabei wollten – Befürworter wie Gegner – doch wirklich nur das Beste für ihre Kinder.
Homöopathie als Alternative?
„Wir nehmen Befürchtungen durchaus ernst“, sagt Kirchner nach der Pause zögerlich. Aber es sei schwer, mit jemandem zu debattieren, der „die Gleichung eins plus eins ist zwei“nicht anerkenne, sondern drei oder vier behaupte. Aus dieser Warte betrachtet ist der Abend durchaus eine friedliche Veranstaltung, die Hendrik Groth da zu moderieren hat, ohne dass grundsätzlich Welten aufeinanderprallen, von denen die eine gut und die andere böse ist. „Auch wenn Forschung und Wissenschaft auf unserer Seite stehen“, sagt Günther Wiedemann, der sich gerade auch über die kritischen Einwürfe freut. Er wird aber unmissverständlich, wenn es um die Frage geht, ob es zu herkömmlichen Impfungen homöopathische Alternativen gibt: „Nein. Davon lassen sich Viren nicht beeindrucken. Wer einen anderen Eindruck erweckt, gehört angezeigt!“
Als nach mehr als zwei Stunden alle Fragen beantwortet sind, nimmt die Mehrheit eine gefestigte Überzeugung mit in den Abend, dass die Befürchtungen im Zusammenhang mit Impfkomplikationen wenig sind gegen die Schrecken einer vermeidbaren Krankheit, deren Folgen noch nach Jahrzehnten tödlich sein kann. „Die Veranstaltung hat mich eher in meiner Skepsis bestätigt“, sagt indes die blonde Frau aus der dritten Reihe beim Gehen. Und ihre brünette Begleiterin findet, dass eine impfkritische Stimme gefehlt habe. Eine, die auch andere Meinungen gelten lasse. Wahrheit gibt es am Ende aber nur eine, unabhängig davon, dass jeder Mensch oder die Eltern selbst entscheiden müssen. Die einzig belastbare, untersuchte und nachweislich wirkungsvolle Wahrheit – nicht nur im Fall von Pocken oder Polio – hat derzeit die Wissenschaft. Und deren Positionen hat das Expertentrio nach mehrheitlicher Wahrnehmung glaubwürdig vertreten.
„Was ist mit Zusätzen in Impfungen? Mit Aluminium oder Hühnereiweiß?“
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