Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Besserer Schutz bei Behandlungsfehlern
SPD-Chefin Andrea Nahles kommt für ein Jubiläum nach Aalen – Sie bietet feierliche Worte und wenig Konkretes
BERLIN (sz) - Opfer von ärztlichen Behandlungsfehlern leiden häufig sehr – und schrecken dennoch oft vor einer Klage zurück. Denn bislang liegt die Beweislast – abgesehen von groben Fehlern – beim Patienten. Nun könnte sich hier aber etwas im Sinne der Opfer tun. Justiz- und Gesundheitsministerium diskutieren einen Gesetzesvorschlag, in dem es um weitere Beweiserleichterungen und um einen Härtefallfonds für Opfer von Behandlungsfehlern geht.
AALEN - Sagt sie es jetzt? Andrea Nahles redet seit gut einer halben Stunde hier, in der Kantine der Berufsschule in Aalen. Dann kommt sie auf die Frage zu sprechen, die drei Viertel der Deutschen nicht mehr beantworten können: die Frage, wofür eigentlich die SPD steht. Knapp 200 Menschen sitzen im Raum vor Andrea Nahles, ein paar stehen ganz hinten. Es ist ruhig im Saal.
Eigentlich ist Nahles nach Aalen gekommen, um ein Fest zu begehen. 125 Jahre lang gibt es die Partei in der Stadt. Nur: Jubiläen sind momentan der einzige Grund, den die SPD zum Feiern hat. Seit über einem Jahr schlittert die Partei auf den politischen Abgrund zu. Nur noch 14 Prozent der Stimmen würde die Partei heute laut jüngster Wahlumfrage bekommen, wenn am Sonntag Bundestagswahl wäre. 74 Prozent der Wähler denken laut einer Befragung zur Bundestagswahl 2017, dass die SPD kein Thema mehr hat, mit dem sie die Menschen begeistern kann. Und Nahles? Kann nicht verstehen, warum das so ist.
Beten für die Solidarität
Sie dreht den Kopf hin und her, als sie zur alles entscheidenden Frage kommt. „Fassungslos“mache sie das, sagt sie, wenn die Leute fragten, wofür die SPD stehe. Und dann spricht sie es aus. „Wofür die SPD seit 155 Jahren steht, das ist Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und Demokratie zu verwirklichen.“Im Saal bleibt es ruhig. Nahles spricht noch eine knappe Minute. „Solidarität ist etwas, wo ich hoffe und bete, dass es in unserem Land nicht abhandenkommt“, sagt sie noch, kurz darauf klatschen sie im Saal, laut und lange, eine knappe Minute.
Aalen ist für die Sozialdemokraten ein Leuchtturm. So hat es Timo Lorenz gesagt, Chef des Ortsvereins Aalen. Viel Industrie, viele Arbeiter, starke SPD, das war jahrzehntelang so. Es ist ja immer noch was dran: 18,6 Prozent Zweitstimmen hat die Partei im Wahlkreis Aalen-Heidenheim bei der Bundestagswahl 2017 geholt, das beste SPD-Ergebnis in Baden-Württemberg. Leni Breymaier, Landeschefin der Partei, hat hier ihren Bundestagswahlkreis – und immerhin 21 Prozent der Erststimmen bekommen. Oberbürgermeister Thilo Rentschler ist Sozialdemokrat. Für das 125. Jubiläum haben sie eine Faltbroschüre in der Stadt verteilt – in jedem Haushalt, wie Stadtverbandschef Albrecht Schmid mit Zeigefinger in der Luft und Stolz in der Stimme erzählt.
Aber auch hier spüren die Genossen die Angst – und den Frust. Auch hier treibt viele der Zweikampf zwischen Breymaier und ihrem Konkurrenten Lars Castellucci um die Landesspitze um, sind viele genervt vom Dauerkrach in der großen Koalition in Berlin. Jakob Bubenheimer, 28 Jahre alt und seit zehn Jahren Sozialdemokrat, sagt, er höre von den Genossen oft Sätze wie diesen: „Wir rackern uns ab in der Kommunalpolitik – und die da oben machen alles kaputt.“
Andrea Nahles spricht nicht von Angst oder Frust in ihrer Rede. Sie spannt mehrere weite Bögen – von der roten Vergangenheit in die Gegenwart. Nahles spricht über den Kampf um das Frauenwahlrecht am Anfang des 20. Jahrhunderts – und beklagt dann die niedrige Frauenquote im heutigen Bundestag. Sie spricht über die Spaltung der Linken, in SPD und Kommunisten nach der Novemberrevolution 1918 – und wirbt dann dafür, offen zu sein für ein Bündnis mit der Linkspartei von heute. Sie erinnert an den Widerstand der SPD gegen die Nazis in den 1930er-Jahren – redet sich dann in Rage über die Rechtspopulisten von heute und ruft schließlich: „Da müssen wir neue Allianzen bilden, mit Macron und mit Tsipras“und „Wir müssen dafür kämpfen, dass Europa nicht in die Hände von Rechtsradikalen gerät!“
Wie Nahles das bewerkstelligen will, eine politische Einheit zu bilden aus dem wirtschaftsliberalen französischen Präsidenten, dem linken griechischen Ministerpräsidenten und ihrer SPD, das sagt sie nicht. Überhaupt sagt die SPD-Chefin wenig Konkretes. Sie schwört die Sozialdemokraten hier in Aalen vor allem ein auf die traditionellen Werte der Partei und versucht, sie mit den Problemen der Gegenwart und Zukunft zu verbinden. Den „digitalen Kapitalismus“, sagt sie, müsse die SPD so bändigen, wie sie es mit dem Frühkapitalismus am Ende des 19. Jahrhundert getan habe. „Sonst gibt es in Zukunft keine soziale Marktwirtschaft mehr, versteht das bitte endlich!“Applaus aus dem Publikum.
Die Basis fand es ganz gut
Es ist ein Abend der Selbstvergewisserung, ein netter Abend. Nach ihrer Rede unterhält sich Nahles mit einer Gruppe Jusos, der SPD-Jugendorganisation. Sie stellt sich für Selfies auf, lässt sich für Fotos umarmen, schüttelt ein Dutzend Hände. Dann, etwa anderthalb Stunden nach ihrer Ankunft, ist Nahles weg.
An der Aalener SPD-Basis haben sie es auch nett gefunden, so scheint es. Der junge SPD-ler Bubenheimer fand die Rede „überraschend“, sagt er, der Bezug auf die Spaltung der Linken hat ihm gefallen. Und rhetorisch? „Naja, der Saal ist vielleicht nicht so geeignet.“
Christina Pippert, 51 Jahre alt und seit 15 Jahren in der SPD, hat Nahles „gut“gefunden. Ihr größter Wunsch an die SPD? Dass sie einen Ersatz findet für Hartz IV, dass Menschen, die mit Ende 50 arbeitslos werden, nicht ihr erspartes Vermögen aufbrauchen müssen, um Unterstützung zu bekommen. Nahles hat das Thema kurz erwähnt. Sie hat leise gesagt, „wir müssen auch mal Hartz IV ankucken“. Und, deutlich lauter, „Kinder haben in der Sozialhilfe nichts verloren!“Einen Plan, wie das gehen soll, hat sie nicht erwähnt.