Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Mit Geschichte Politik machen
Christopher Clark fragt, wie sich die Herrschenden in Deutschland die Vergangenheit zunutze gemacht haben
In seinem Bestseller „Die Schlafwandler“beschrieb Christopher Clark den Beginn des Ersten Weltkriegs – und entfachte eine heftige Diskussion. Jetzt blickt der Australier auf Deutschland.
„Make America Great Again“– mit dieser Botschaft griff Donald Trump auf einen uralten Trick der Politik zurück: Wer als Herrscher die Menschen durch das heutige Tal der Tränen leiten will, muss zunächst eine glorreiche Vergangenheit beschwören – und dann eine goldene Zukunft verheißen. Siehe Putin und Erdogan.
„Wie die Schwerkraft das Licht, so beugt die Macht die Zeit“, schreibt der australische Historiker Christopher Clark in der Einleitung zu seinem neuen Buch „Von Zeit und Macht“. Könige und Kanzler, Despoten oder Demokraten, Regierende, so Clarks These, berufen sich immer wieder auf die Geschichte, um ihre Stellung heute zu begründen.
Mit vier Beispielen aus Deutschland zeichnet Clark auf rund 300 Seiten das Verhältnis von Herrschaft und Zeit nach. Das Buch beruht auf einer Vortragsreihe der Universität Princeton. Der Cambridge-Professor fragt nun, wie Machthaber die Zeit und ihre Wahrnehmung nutzen – auch im Kampf gegen ihre Gegner. Deutlich wird das etwa beim Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm (16201688). Nach dem traumatischen Dreißigjährigen Krieg musste er die Herrschaft der Hohenzollern in Brandenburg gegen die Stände begründen und festigen. Die Argumente lieferte ihm der Hofhistoriker Samuel von Pufendorf (1632-1694). Der Staat solle sich von den Fängen der Geschichte befreien und eine neue Ära begründen. Vergesst die alten Griechen und Römer und konzentriert euch auf die eigene Zeit, postulierte Pufendorf.
Anders beim Urenkel des Kurfürsten: Friedrich der Große (17121786) sah sich als „Vollendung der Geschichte“und menschgewordene Vernunft. Zeit und Macht fallen in seiner Person zusammen. Ein Jahrhundert später wechselt Otto von Bismarck (1815-1898) dann zwischen Vergangenheitsverklärung und Zukunftsoptimismus und positioniert sich als „Steuermann im Strom der Zeit“.
Die Nazis treten mit ihrem „Tausendjährigen Reich“brutal aus der Geschichte aus. Mit ihrer Vorliebe für Endzeit-Prophezeiungen sehen sie Geschichte als „rassisch definiertes Zeitkontinuum“. Besonders brutal wird das im Vokabular der Vernichtung deutlich, etwa in Worten wie „Endkampf“, „Endlösung“oder „Endsieg“.
Mit vielen Details fügt Clark seine Betrachtungen zu einer anregenden – nicht immer leicht zu lesenden – Darstellung über „Zeitlandschaften“zusammen. Geschrieben habe er das Buch unter dem Getöse der Brexit-Kampagne in Großbritannien. Die sei beseelt von der Beschwörung einer idealisierten Vergangenheit. Das verblichene Empire übe eben auf Teile der herrschenden Klasse in Großbritannien noch immer eine große Faszination aus.
In der Gegenwart gefangen
In der Epoche des Großen Kurfürsten habe man auf künftige Gefahren hingewiesen, um Machtkonzentration zu rechtfertigen. Heute fehle eine zentrale staatliche Struktur, um die Herausforderungen der Gegenwart wie den Klimawandel zu meistern. Deswegen warnt Clark am Ende: Wenn die Staaten nicht imstande seien, glaubwürdige Zukunftsvisionen hervorzubringen und der Gesellschaft dafür die nötigen Mittel fehlen, „dann sind wir wahrlich in der Gegenwart gefangen“.
Christopher Clark: Von Zeit und Macht – Herrschaft und Geschichtsbild vom Großen Kurfürsten bis zu den Nationalsozialisten, Deutsche Verlangsanstalt. 26 Euro.