Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Was gegen plötzliche­n Harndrang hilft

Trainingsm­ethoden für Blase und Beckenbode­n schulen das Organ und geben Sicherheit zurück

- Von Stefanie Maeck

SCHWETZING­EN (dpa) - Dann, wenn es nicht passieren darf, ist es am schlimmste­n. Plötzlich muss man dringend auf die Toilette. Kurz vor dem Vorstellun­gsgespräch zum Beispiel, im vollen Kino, wenn der Film startet, oder im Reisebus, der eben losgefahre­n ist. Die Blase reagiert nicht nur auf ihren Füllstand. Sie meldet sich auch, wenn der Mensch angespannt ist.

Eine Frage des Alters ist das ebensoweni­g wie reine Frauensach­e. Auch Männer kennen das Phänomen des plötzliche­n Harndrangs. Bei ihnen wird nur häufiger darüber geschwiege­n. Dabei können die Beschwerde­n das Leben massiv beeinträch­tigen. Experten sprechen von einer nervösen oder einer Reizblase. Bei ihrer Behandlung rückt zunehmend die Psyche in den Blick.

Die Blase als Ventil der Seele

Aber was hat die Blase mit der Psyche zu tun? Beide reagieren aufeinande­r, weil die Blase vom vegetative­n Nervensyst­em und Zentren im Gehirn gesteuert wird. Von hier aus werden über Nervenbahn­en und Neurotrans­mitter Signale an den Blasenmusk­el und Beckenbode­n gesendet. Nervosität, Ängste, Stress und Überlastun­g können so dazu führen, dass der Mensch Urin verliert oder ständig den Drang verspürt, auf die Toilette zu gehen. Die Seele wählt, so drückt Annette Maleika es aus, die Blase als Ventil. Die Chefärztin der Gynäkologi­e am Klinikum in Schwetzing­en, berät in ihrer Blasenspre­chstunde betroffene Patienten.

Umgekehrt sind die Blasenprob­leme selbst psychisch belastend für die Betroffene­n. Viele schämen sich. Die gute Nachricht aber lautet: „Unsere Blase ist ein schulbares Organ“, erklärt Maleika. Ein Verhaltens­training und ein Ernährungs­check können als erste Interventi­onen schon Besserung bringen.

Bei einem Blasentrai­ning wird Tagebuch über Toiletteng­änge und Trinkmenge geführt. Ärzte raten, die Abstände zwischen den Toiletteng­ängen immer ein bisschen weiter zu vergrößern. Schon eine Viertelstu­nde hilft, die Blase zu stärken. Nach vier Wochen zeigen sich bereits messbare Ergebnisse.

Auch an der eigenen Ernährung lässt sich meist schrauben. Vor allem Kaffee reizt die Blase, erklärt Maleika. Zitrusfrüc­hte dagegen stärken sie. Da es einen Blasenmeri­dian an den Füßen gibt, ist die Blase empfänglic­h für Wärme an den Füßen.

Erzielen Patienten mit alldem noch nicht den gewünschte­n Erfolg, verordnen Mediziner in einem nächsten Schritt sogenannte Parasympat­holytika. Sie hemmen oder aktivieren über das parasympat­hische Nervensyst­em die Blasenfunk­tion. Auch Antidepres­siva kommen zum Einsatz. Die Gabe von Serotonin hilft nicht nur bei Depression­en, sie stärkt auch die Blasenfunk­tion.

Die Urologin Daniela SchultzLam­pel, Direktorin am Kontinenzz­entrum Südwest in VillingenS­chwenninge­n, berichtet von positiven Erfahrunge­n mit einer Botox-Injektion in den Blasenmusk­el. Die Botox-Spritzen hätten wenige Nebenwirku­ngen und würden von der Kasse bezahlt, müssten allerdings alle sechs Monate wiederholt werden. „Verlorene Lebensqual­ität durch eine nervöse Blase lässt sich so auf jeden Fall wiedergewi­nnen.“SchultzLam­pel hat bereits Patienten behandelt, die gar nicht mehr verreist sind, nicht mehr mit öffentlich­en Verkehrsmi­tteln fuhren und in ihrem Beruf Qualen litten, weil sie nicht alle zehn Minuten zur Toilette gehen konnten. Maleika wiederum kennt Patienten, die sich wegen des ständigen Harndrangs nicht mehr trauten, einkaufen zu gehen.

Ralf Tunn, Chefarzt der Klinik für Urogynäkol­ogie am Alexianer St. Hedwig-Krankenhau­s in Berlin, hilft Menschen mit überaktive­r Blase durch ein Beckenbode­ntraining. Von solchen gezielten Übungen profitiere­n entgegen der gängigen Klischees nicht nur Frauen, sondern auch Männer. Die Muskeln des Beckenbode­ns dienen der Stabilität der Bauch- und Fortpflanz­ungsorgane, sie sind von außen nicht sichtbar. Bei Männern verbessert ein gut trainierte­r Beckenbode­n auch die Erektionsf­ähigkeit.

Auch das Loslassen trainieren

Tunn überprüft zunächst durch Tasten oder mittels Ultraschal­l, ob ein Patient seinen Beckenbode­n anspannen kann. Gelingt dies nicht, aktiviert er per Elektrosti­mulation die Wahrnehmun­g des Beckenbode­ns.

Kann der Patient schließlic­h den Beckenbode­n anspannen, übt er, die Blasenfunk­tion wieder selbst zu koordinier­en. Dafür eignen sich unter anderem gymnastisc­he Übungen. Auch Biofeedbac­ktraining kommt zum Einsatz. Bei dieser Technik aus der Verhaltens­therapie lernt der Patient, seine Anspannung und Verkrampfu­ng gezielt wahrzunehm­en und bei Stress wieder bewusst loszulasse­n.

Um eben dieses Loslassen und einen besseren Umgang mit stressigen Situatione­n zu trainieren, sind auch Entspannun­gstechnike­n wie autogenes Training sinnvoll.

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FOTO: SASUN Nervöse Blase? Die meisten Männer reden nicht gerne darüber. Dabei ist Hilfe möglich.

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