Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Was gegen plötzlichen Harndrang hilft
Trainingsmethoden für Blase und Beckenboden schulen das Organ und geben Sicherheit zurück
SCHWETZINGEN (dpa) - Dann, wenn es nicht passieren darf, ist es am schlimmsten. Plötzlich muss man dringend auf die Toilette. Kurz vor dem Vorstellungsgespräch zum Beispiel, im vollen Kino, wenn der Film startet, oder im Reisebus, der eben losgefahren ist. Die Blase reagiert nicht nur auf ihren Füllstand. Sie meldet sich auch, wenn der Mensch angespannt ist.
Eine Frage des Alters ist das ebensowenig wie reine Frauensache. Auch Männer kennen das Phänomen des plötzlichen Harndrangs. Bei ihnen wird nur häufiger darüber geschwiegen. Dabei können die Beschwerden das Leben massiv beeinträchtigen. Experten sprechen von einer nervösen oder einer Reizblase. Bei ihrer Behandlung rückt zunehmend die Psyche in den Blick.
Die Blase als Ventil der Seele
Aber was hat die Blase mit der Psyche zu tun? Beide reagieren aufeinander, weil die Blase vom vegetativen Nervensystem und Zentren im Gehirn gesteuert wird. Von hier aus werden über Nervenbahnen und Neurotransmitter Signale an den Blasenmuskel und Beckenboden gesendet. Nervosität, Ängste, Stress und Überlastung können so dazu führen, dass der Mensch Urin verliert oder ständig den Drang verspürt, auf die Toilette zu gehen. Die Seele wählt, so drückt Annette Maleika es aus, die Blase als Ventil. Die Chefärztin der Gynäkologie am Klinikum in Schwetzingen, berät in ihrer Blasensprechstunde betroffene Patienten.
Umgekehrt sind die Blasenprobleme selbst psychisch belastend für die Betroffenen. Viele schämen sich. Die gute Nachricht aber lautet: „Unsere Blase ist ein schulbares Organ“, erklärt Maleika. Ein Verhaltenstraining und ein Ernährungscheck können als erste Interventionen schon Besserung bringen.
Bei einem Blasentraining wird Tagebuch über Toilettengänge und Trinkmenge geführt. Ärzte raten, die Abstände zwischen den Toilettengängen immer ein bisschen weiter zu vergrößern. Schon eine Viertelstunde hilft, die Blase zu stärken. Nach vier Wochen zeigen sich bereits messbare Ergebnisse.
Auch an der eigenen Ernährung lässt sich meist schrauben. Vor allem Kaffee reizt die Blase, erklärt Maleika. Zitrusfrüchte dagegen stärken sie. Da es einen Blasenmeridian an den Füßen gibt, ist die Blase empfänglich für Wärme an den Füßen.
Erzielen Patienten mit alldem noch nicht den gewünschten Erfolg, verordnen Mediziner in einem nächsten Schritt sogenannte Parasympatholytika. Sie hemmen oder aktivieren über das parasympathische Nervensystem die Blasenfunktion. Auch Antidepressiva kommen zum Einsatz. Die Gabe von Serotonin hilft nicht nur bei Depressionen, sie stärkt auch die Blasenfunktion.
Die Urologin Daniela SchultzLampel, Direktorin am Kontinenzzentrum Südwest in VillingenSchwenningen, berichtet von positiven Erfahrungen mit einer Botox-Injektion in den Blasenmuskel. Die Botox-Spritzen hätten wenige Nebenwirkungen und würden von der Kasse bezahlt, müssten allerdings alle sechs Monate wiederholt werden. „Verlorene Lebensqualität durch eine nervöse Blase lässt sich so auf jeden Fall wiedergewinnen.“SchultzLampel hat bereits Patienten behandelt, die gar nicht mehr verreist sind, nicht mehr mit öffentlichen Verkehrsmitteln fuhren und in ihrem Beruf Qualen litten, weil sie nicht alle zehn Minuten zur Toilette gehen konnten. Maleika wiederum kennt Patienten, die sich wegen des ständigen Harndrangs nicht mehr trauten, einkaufen zu gehen.
Ralf Tunn, Chefarzt der Klinik für Urogynäkologie am Alexianer St. Hedwig-Krankenhaus in Berlin, hilft Menschen mit überaktiver Blase durch ein Beckenbodentraining. Von solchen gezielten Übungen profitieren entgegen der gängigen Klischees nicht nur Frauen, sondern auch Männer. Die Muskeln des Beckenbodens dienen der Stabilität der Bauch- und Fortpflanzungsorgane, sie sind von außen nicht sichtbar. Bei Männern verbessert ein gut trainierter Beckenboden auch die Erektionsfähigkeit.
Auch das Loslassen trainieren
Tunn überprüft zunächst durch Tasten oder mittels Ultraschall, ob ein Patient seinen Beckenboden anspannen kann. Gelingt dies nicht, aktiviert er per Elektrostimulation die Wahrnehmung des Beckenbodens.
Kann der Patient schließlich den Beckenboden anspannen, übt er, die Blasenfunktion wieder selbst zu koordinieren. Dafür eignen sich unter anderem gymnastische Übungen. Auch Biofeedbacktraining kommt zum Einsatz. Bei dieser Technik aus der Verhaltenstherapie lernt der Patient, seine Anspannung und Verkrampfung gezielt wahrzunehmen und bei Stress wieder bewusst loszulassen.
Um eben dieses Loslassen und einen besseren Umgang mit stressigen Situationen zu trainieren, sind auch Entspannungstechniken wie autogenes Training sinnvoll.