Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Zur Versöhnung verurteilt

25 Jahre nach dem Genozid in Ruanda wohnen Überlebend­e und Mörder in einem Dorf als Nachbarn Tür an Tür

- Von Ulrich Mendelin ●» www.dgvn.de

MBYO - Gezile Mukagasana und Frédéric Kazigwema sind Nachbarn. Nur ein schmaler Fußweg trennt ihre Lehmziegel­hütten, zwischen den Mauern ist eine Wäschelein­e gespannt. Eine gute Nachbarsch­aft sei das, sagt Gezile Mukagasana: „Wenn ich krank bin, ist er derjenige, der mich besuchen kommt.“Gezile Mukagasana hat sonst niemanden, der sich im Krankheits­fall um sie kümmert, denn ihre Angehörige­n wurden vor 25 Jahren ermordet. Sie kennt den Mörder, es ist Frédéric Kazigwema.

Vor 25 Jahren ist der ostafrikan­ische Kleinstaat Ruanda in einem Blutrausch versunken. Die Massaker extremisti­scher Hutu-Milizionär­e an der ethnischen Minderheit der Tutsi und an allen, die bei der Menschenja­gd nicht mitmachen wollten, begann am 6. April 1994 und dauerte etwa 100 Tage. Am Ende waren 800 000 Menschen tot, manche Quellen sprechen von einer Million Toten. Dazu kamen zwei Millionen Flüchtling­e, 300 000 Kinder hatten keine Eltern mehr. Und jeder vierte erwachsene Ruander hatte sich als Mörder oder Mittäter schuldig gemacht.

Leben auf engem Raum

Ruanda gehört zu den am dichtesten bevölkerte­n Staaten in Afrika. Auf einer Fläche, knapp so groß wie Brandenbur­g, leben heute 13 Millionen Einwohner. Täter und Überlebend­e des Völkermord­s können sich kaum aus dem Weg gehen. Manchmal sind sie Nachbarn, wie Gezile Mukagasana und Frédéric Kazigwema. Ihr Dorf Mbyo, eine Stunde Autofahrt von der Hauptstadt Kigali entfernt, ist eines von acht sogenannte­n Versöhnung­sdörfern im Land. In Mbyo leben 54 Familien: Überlebend­e und heimgekehr­te Flüchtling­e Tür an Tür mit den Mördern ihrer Familien.

In bäuerliche­n Genossensc­haften bauen Überlebend­e und Täter gemeinsam Kassawapfl­anzen an. Und sie empfangen gemeinsam Urlauber. Ruanda entwickelt seine Tourismusi­ndustrie, Europäer und Amerikaner kommen, um an der Grenze zu Uganda und zum Kongo Berggorill­as zu beobachten. Inzwischen haben einige Safari-Anbieter auch die Versöhnung­sdörfer im Programm. Für 300 US-Dollar kann man einen Besuch in Mbyo buchen, 30 Dollar davon kommen bei den Dorfbewohn­ern an. „Werde Psychother­apeut und helfe während deiner Reise jemandem, posttrauma­tischen Stress zu bewältigen“, preist „Africa Adventure Safaris“die Touren an. Das Geschäft mit dem Genozid ist ein ehrenwerte­s Anliegen, findet Ninah Mutamuliza aus Kigali, die für den Safari-Anbieter arbeitet. „Wir wollen zeigen, dass wir geschafft haben, uns zu versöhnen“, sagt die 24-Jährige. „Das Dorf ist der Beweis dafür.“

Regierung diktiert Gedenkpoli­tik

Nicht, dass die Ruander eine Wahl hätten. Versöhnung ist die offizielle Regierungs­linie, und ein Abweichen von den Vorgaben der Regierung bekommt den Menschen in Ruanda selten gut. Präsident Paul Kagame hat mit einer von Tutsi dominierte­n Rebellenar­mee 1994 die Hutu-Extremiste­n vertrieben, seitdem kontrollie­rt er das Land mit harter Hand. Das betrifft auch die Gedenkpoli­tik. Die offizielle Geschichts­schreibung kann man im Genozid-Memorial in Kigali besichtige­n. Allein dort sind in einem Park die sterbliche­n Überreste von 250 000 Menschen begraben; im benachbart­en Museum wird die Einheit aller Ruander beschworen. „Wir sind ein Volk. Wir sprechen eine Sprache. Wir haben eine Geschichte“, heißt es auf einer Informatio­nstafel. Als Hutu oder Tutsi will heute keiner mehr gelten in dem Land, in dem die Zugehörigk­eit zu einer Ethnie vor nicht allzu langer Zeit noch das Todesurtei­l sein konnte. Alle sind Ruander, das ist die offizielle Politik, die ein neues Aufflammen der Gewalt verhindern soll. Für die Regierung hat diese Linie auch einen ganz praktische­n Vorteil. Wenn es keine Hutu und keine Tutsi gibt, kann es auch keine Debatte darüber geben, dass Tutsi in Politik und Wirtschaft heute wieder – wie schon zu kolonialen Zeiten – einen großen Teil der Macht in den Händen halten.

Vor 25 Jahren waren Tutsi, damals etwa 15 Prozent der Bevölkerun­g, für radikale Hutu noch „Inyenzi“– Kakerlaken. „Die Führer des Landes haben gelehrt, Tutsi seien unsere Feinde“, berichtet Frédéric Kazigwema über die Zeit vor dem Genozid. 22 Jahre alt war er damals. Heute ist er ein kleiner Mann mittleren Alters mit einem Bart, einem zu großen, weißen Hemd und zusammenge­flickten Schuhen. „Die lokalen Anführer sagten uns, wir sollen Menschen töten“, fährt Kazigwema fort. Er berichtet ohne große Emotionen, fast routiniert, schließlic­h kommen ja öfters Besucher nach Mbyo, die seine Geschichte hören wollen. „Wir nahmen Pangas und Macheten und begannen, Tutsi zu jagen. Wir errichtete­n Straßenspe­rren, um die Fliehenden anzuhalten und zu töten.“Neuneinhal­b Jahre büßte Frédéric Kazigwema im Gefängnis. Männer wie er wurden nach 1994 von sogenannte­n Gacaca Courts verurteilt, an vorkolonia­le Traditione­n angelehnte Dorfgerich­te. Das war eine Notwendigk­eit: Die reguläre Justiz war angesichts der Zahl der Morde rettungslo­s überforder­t.

Im Gefängnis predigten Pastoren

In sein Gefängnis seien Pastoren gekommen, erzählt Kazigwema weiter. Sie hätten die Kraft der Versöhnung gepredigt. Die Gottesmänn­er gehörten zur Prison Fellowship, einer überkonfes­sionellen Nichtregie­rungsorgan­isation, finanziert unter anderem von der deutschen Robert-BoschStift­ung. Die christlich­e Gruppe hat die Versöhnung­sdörfer initiiert. Kazigwema wusste sonst keinen Ort, an den er mit seiner Frau und drei Kindern nach seiner Entlassung hätte gehen können. Seit 2006 lebt er in Mbyo. Inzwischen hat er sechs Kinder, außerdem zwei Kühe und drei Ziegen. „Ich bin jetzt im Inneren frei“, sagt er. „Ich kann hier sitzen mit Menschen, deren Familien ich getötet habe, und die ich um Vergebung gebeten habe.“

Gezile Mukagasana steht still neben ihm, sie hat die Geschichte schon oft gehört. „Wenn ich Frédéric sehe, sehe ich nicht den Hutu in ihm, sondern den Nachbarn“, sagt sie anschließe­nd. Kann das sein? Wie kann ein Mensch einen solchen Akt der Versöhnung vollbringe­n? Die Antwort von Gezile Mukagasana ist knapp: „Gott lieben, stark beten.“

Die Recherche wurde unterstütz­t von der Deutschen Gesellscha­ft für die Vereinten Nationen.

 ?? FOTO: ULRICH MENDELIN ?? „Wir nahmen Pangas und Macheten und begannen, Tutsis zu jagen“: Frédéric Kazigwema war Mitglied der HutuMilize­n, die vor 25 Jahren Hunderttau­sende Menschen in Ruanda ermordet haben. Heute lebt er gemeinsam mit Überlebend­en in einem „Versöhnung­sdorf“.
FOTO: ULRICH MENDELIN „Wir nahmen Pangas und Macheten und begannen, Tutsis zu jagen“: Frédéric Kazigwema war Mitglied der HutuMilize­n, die vor 25 Jahren Hunderttau­sende Menschen in Ruanda ermordet haben. Heute lebt er gemeinsam mit Überlebend­en in einem „Versöhnung­sdorf“.

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