Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Libyen droht erneut Chaos
Ein langer Konvoi aus Geländewagen in Tarnfarben mit aufmontierten Maschinengewehren und Luftabwehrgeschützen rollt durch die libysche Wüste in Richtung Westen: Ein Video der sogenannten Libyschen Nationalen Armee (LNA) des Generals Khalifa Haftar veranschaulicht einen Vorstoß, der Libyen erneut ins Chaos stürzen könnte.
Haftar, der bisher den Osten des in Anarchie versunkenen Landes beherrscht, schickt sich an, die Hauptstadt Tripolis im Westen einzunehmen, Sitz der international anerkannten Regierung. Die Offensive erwischte die Vereinten Nationen auf dem falschen Fuß: UN-Generalsekretär Antonio Guterres wurde von Haftars Angriff in Tripolis überrascht, wo er eine Friedenskonferenz vorbereiten wollte. Eine Schlacht um Tripolis könnte nicht nur die Bemühungen
um eine politische Lösung zunichtemachen, sondern auch Flüchtlinge aus Libyen über das Mittelmeer nach Südeuropa treiben.
Machtkampf seit Gaddafis Sturz
Seit dem Sturz des libyschen Diktators Muammar Gaddafi vor acht Jahren kämpfen Milizen und Rebellenverbände in dem ölreichen Land um die Macht. Auch internationale Akteure mischen mit – und verschärfen damit die Gegensätze. Haftar, ein ehemaliger Offizier in Gaddafis Armee, der nach Siegen über islamistische Gruppen zum starken Mann in Ost-Libyen wurde, erhält Unterstützung von Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Russland; wobei Moskau laut Medienberichten parallel auch Kontakte zu einem Sohn Gaddafis pflegt.
Der Türkei und Katar wird dagegen nachgesagt, islamistische Gruppen mit Waffen zu versorgen. Insbesondere der libysche Ableger der Muslimbruderschaft profitiert nach Beobachtung von Experten von dieser Hilfe. Haftar ist ein erklärter Erzfeind der Muslimbrüder.
In den vergangenen Jahren bildete sich dennoch eine Koexistenz von Haftar im Osten und der international anerkannten Regierung im Westen heraus, die für eine gewisse Beruhigung der Lage sorgte. Doch Haftars Machtstreben hat diese stillschweigende Übereinkunft außer Kraft gesetzt. Seit Anfang des Jahres hat seine LNA den ölreichen Süden unter ihre Kontrolle gebracht – dort konnte Haftar als Garant der Stabilität von der Schwäche der Regierung profitieren und lokale Gruppen auf seine Seite bringen. Jetzt fühlt er sich stark genug für den Angriff auf die Hauptstadt.
Die dortige Regierung verfügt über keine eigenen Streitkräfte, sondern muss sich auf mehrere Milizen verlassen. Einige Gruppen, die sich in der „Schutztruppe für Tripolis“zusammengeschlossen haben, wollen sich Haftar entgegenstellen – damit droht eine neue militärische Eskalation und ein neuer Bürgerkrieg. Wichtige Verbündete Haftars wie die VAE und Russland schlossen sich Forderungen der UNO und des Westens nach militärischer Zurückhaltung an.
Ob sich der General davon beeindrucken lässt, ist nicht sicher.