Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Eine Art Geistersta­dt

Was läuft schief in L’Aquila? – Ein Besuch zehn Jahre nach der Katastroph­e

- Von Thomas Migge

ROM - Vor genau zehn Jahren bebte mitten in der Nacht die Erde. Das Beben der Stärke 6,3 auf der Richterska­la zerstörte in der mittelital­ienischen Region Abruzzen zahllose Ortschafte­n. 309 Menschen starben, es gab rund 1600 Verletzte, mehr als 80 000 Menschen wurden obdachlos.

Auch die denkmalges­chützte Altstadt l’Aquilas, fünftwicht­igste Stadt Italiens was historisch­e Kulturgüte­r betrifft, wurde schwer zerstört. Fast alle historisch­en Gebäude wurden beschädigt oder stürzten ein. Direkt nach der Katastroph­e versprach der damalige Regierungs­chef Silvio Berlusconi, dass vor allem L’Aquila so schnell wie möglich wieder aus den Trümmern auferstehe­n wird.

Doch wer heute LAquila besucht, bekommt eine Art Geistersta­dt zu sehen. Die meisten Straßen sind menschenle­er, ohne Geschäfte und städtische­s Leben. Unbewohnte Häuser überall. Dutzende Kräne ragen in die Höhe, aber auf nur wenigen Baustellen wird kontinuier­lich gearbeitet. Einige historisch­e Monumente, die fast oder bereits fertig restaurier­t worden sind, wirken wie Eisbergspi­tzen in einem Meer unbewohnte­r und von Holz- und Stahlträge­rn abgestützt­er Gebäude.

Wie die mittelalte­rliche Basilica di Collemaggi­o am Stadtrand. Dank eines privaten Geldgebers, des Energierie­sen ENI, wurde sie komplett restaurier­t und wiedereröf­fnet. Auch der berühmte mittelalte­rliche Brunnen der 99 Wasserhähn­e sprudelt dank privater Sponsoren wieder. Doch diese Restaurier­ungsarbeit­en sind Ausnahmen in L’Aquila.

Warum dauern die Arbeiten an den anderen historisch­en Bauwerken so lange? Was funktionie­rt nicht auf Europas größter Baustelle? „Das Stadttheat­er aus dem 19. Jahrhunder­t ist ein gutes Beispiel für das ‚Warum‘ des so extrem langsamen Wiederaufb­aus des historisch­en Stadtzentr­ums“, erklärt Beatrice Delmonte, Kunsthisto­rikerin an der Universitä­t L’Aquila. „Die Arbeiten haben erst vor Kurzem begonnen, nicht etwa wegen fehlender Gelder“, sagt Delmonte. „Nein, der Grund für diese enorme Verspätung sind Prozesse gegen jene Bauunterne­hmer, die den Zuschlag für die Wiederaufb­auarbeiten bekommen haben.“

Demo gegen die Mafia

Weil die Mafia auf der Großbauste­lle L’Aquila präsent und einflussre­ich geworden ist, hat die Anti-Mafia-Organisati­on Libera im vergangene­n März eine Demo in der Stadt organisier­t: gegen die wachsende Präsenz von Clans und ihren Unternehme­n im lukrativen Baugeschäf­t. In Dutzenden Fällen ermittelt deshalb jetzt auch die Staatsanwa­ltschaft gegen Bauunterne­hmen, die Mafiaclans aus Süditalien gehören sollen. An einer Vielzahl historisch­er Gebäude wird deshalb nicht gearbeitet, weil Gerichte erst entscheide­n müssen, ob Bauunterne­hmen mafiafrei sind oder aber nicht. Solange das nicht geklärt ist, können neue Bauunterne­hmen nicht beauftragt werden. Die Folge: Die Arbeiten stehen still, die beschädigt­en Bauwerke gammeln vor sich hin.

Aber L’Aquilas Wiederaufb­auprobleme haben auch mit der extrem langsamen Bürokratie zu tun. „In einer Kommune, die immerhin Regionalha­uptstadt ist“, sagt Kunsthisto­rikerin Delmonte, „ist es doch unbegreifl­ich, dass die Regierung in Rom keine Sondergese­tze verabschie­det, um den Wiederaufb­au entschiede­n voranzutre­iben.“Es gebe, sagt sie, genügend Finanzmitt­el für den Wiederaufb­au, auch seitens der EU, „doch die Gelder werden aus verschiede­nen Gründen, wie eben den Prozessen und der lahmen Bürokratie, nicht freigegebe­n“. Wenn in L’Aquila „so weitergear­beitet wird wie bisher, dann wird es lange, sehr lange dauern, bis in Italiens fünftwicht­igstem historisch­en Stadtzentr­um endlich wieder Leben einkehrt“.

Roms Politiker scheinen aber im Fall der Forderunge­n aus L’Aquila auf beiden Ohren taub zu sein. Der Wiederaufb­au des historisch­en Stadtkerns ist keines der wichtigen Themen auf der Agenda der Regierung. Er wird noch Jahre dauern.

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