Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Verletzte Seelen am Kiepenkerl
Jahrestag der Amokfahrt in Münster: Bei den Überlebenden hat der Täter tiefe Spuren hinterlassen
MÜNSTER (dpa) - Vorbei am Dom geht Stephan durch eine kleine Gasse in Richtung Kiepenkerl. „Ich war nach neun Monaten erstmals im Januar wieder an diesem Ort“, sagt der Steuerberater und Jurist aus München, der seinen Nachnamen nicht nennen möchte. Im April 2018 saß der heute 48-Jährige ganz nah an dem Ort, an dem bei einer Amokfahrt fünf Menschen getötet und mehr als 20 verletzt wurden. „Eigentlich dachte ich, dass ich das alles gut verarbeitet hatte. Ich habe nie davon geträumt, aber dann hat es mir beim Gang auf den Platz doch kurz die Beine weggehauen“, sagt Stephan. Der Kiepenkerl ist ein Denkmal in Münsters Innenstadt. Um ihn herum stellen zwei Gaststätten in der wärmeren Jahreszeit Tische und Stühle auf.
„Mir macht diese Willkür zu schaffen. Warum hat es andere getroffen und uns nicht? Meine Schwiegermutter hat gesagt: Wir sind noch nicht dran“, erzählt der Mann, der in Münster studiert hat und seit vier Jahren in Bayern lebt. Für eine Geburtsfeier war er vor einem Jahr nach Westfalen gekommen.
Zwei Stunden, bevor ein psychisch labiler Deutscher mit seinem Campingbus in die Außengastronomie am Kiepenkerl rast, Menschen in den Tod reißt und sich anschließend selbst erschießt, sitzt Stephan genau an der Stelle, wo der Bus später eine Schneise der Verwüstung in die Außengastronomie reißt. „Die Frauen wollten noch shoppen, und wir sind nochmals in Richtung Prinzipalmarkt aufgebrochen. Weil aber an diesem ersten tollen Frühlingstag draußen nirgendwo etwas frei war, sind wir Männer dann doch wieder in Richtung Kiepenkerl“, schildert der 48-Jährige. Sie hatten sich gerade gesetzt und die erste Bestellung aufgegeben. „Da sehe ich im Augenwinkel, wie ein grauer Schatten eine Bugwelle von Tischen, Stühlen und Gläsern vor sich herschiebt.“
In der Gaststätte „Großer Kiepenkerl“arbeiten zu diesem Zeitpunkt die 49-jährige Wirtin Wilma von Westphalen und 20 Mitarbeiter. „Wir hatten glücklicherweise keine körperlich Verletzten unter den Angestellten, aber seelische“, sagt die Chefin. Die Belegschaft hat gemeinsam überlegt, wie sie mit dem Jahrestag umgeht. Jetzt hat der „Große Kiepenkerl“am 7. April erst ab 17 Uhr geöffnet. Am Abend sind nur Mitarbeiter eingeteilt, die bei der Amokfahrt keinen Dienst hatten.
Für die Mitarbeiter war das Auftreten einiger Gäste in den Monaten danach eine fürchterliche Erfahrung. „Gäste haben uns gefragt: Sagen Sie mal, wo genau ist das Auto denn reingefahren? Und wo waren Sie damals? Meine Mitarbeiter haben sich bei diesen Fragen im ersten Moment zusammengerissen, sind dann hinten in der Küche weinend zusammengebrochen.“Der Kiepenkerl dürfe kein Wallfahrtsort für Katastrophentouristen werden, fordert die Gasthausbetreiberin.
Markus Lewe, Münsters Oberbürgermeister, sagt, er sei durch diesen Tag dankbarer geworden. „Und es hat mir gezeigt, dass in dieser Stadt, auch wenn wir uns in der Politik manchmal heftig auseinandersetzen, zusammengehalten wird.“Lewe war zum Zeitpunkt der Amokfahrt mit seiner Frau mit dem Rad unterwegs. „Auf dem Rückweg habe ich mich schon gewundert, dass am Himmel ein Hubschrauber zu sehen war. Am Schlossplatz sah ich dann die Krankenwagen, die Straße war mit Flatterband gesperrt.“
Die Stadt hatte Glück im Unglück. Wegen eines Fußballspiels und einer angemeldeten Demonstration waren viele Polizeibeamte bereits in der Stadt. Die Kurden sagten mit Rücksicht auf die Lage von sich aus die Demo sofort ab.
Die Polizei hat Lehren gezogen
Münsters Polizeipräsident Hajo Kuhlisch ist über mehrere Entscheidungen des Tages froh. „Am Tatort waren ja viele Opfer zu versorgen. Und es gab Angst vor Sprengstoff. Nach den Regeln hätten die Rettungskräfte den Bereich eigentlich nicht betreten dürfen. Aber um die Verletzten zu bergen, haben sie anders entschieden.“Daraus hat die Polizei in der Aufarbeitung Lehren gezogen: „Unser Handlungskatalog hat sich durch diesen Tag erweitert. Wir haben Dinge gemacht, die sinnvoll sind, auch wenn es so nicht in unseren Plänen stand. Regeln müssen gelebt werden“, sagt Kuhlisch.
Für Kuhlisch bleibt eines offen: „Wir müssen uns fragen, wie wir gerade bei psychisch kranken Tätern neben den bereits bestehenden Hilfsangeboten in Zukunft so etwas verhindern können. Was können wir tun, wenn sich jemand isoliert, viel im Internet unterwegs ist und vielleicht ein Zeichen setzen will? Wir müssen aufarbeiten, ob es da eine Lücke gibt. Wie bekomme ich mit, dass sich jemand verändert?“