Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Grabrede für einen armen Mörder ’’
Johannes Bläsi bestattet einsame und mittellose Menschen – Der Diakon taucht in fremde Leben ein – und manchmal blickt er auch in tiefe Abgründe
Die Mail vom Ordnungsamt ist kurz: „Herr Nowak* wurde 1971 in Polen geboren, verstorben vor Kurzem in Heilbronn.“Durch die Gläser seiner goldenen Nickelbrille schaut Johannes Bläsi auf die ausgedruckte Nachricht in seinen Händen. Der 54Jährige streicht sich über das kurze, graue Haar und runzelt die Stirn: „Nowak ist nur 47 Jahre alt geworden.“Am unteren Ende der Nachricht stehen die letzte Adresse des Toten und die Telefonnummern seiner Ex-Frau und der beiden Kinder. Mehr weiß Bläsi nicht über den Menschen, den er in wenigen Tagen bestatten wird. Es ist der Anfang einer Spurensuche, an deren Ende ein würdiges Begräbnis mit Trauerrede stehen soll. Bläsi macht das ehrenamtlich. „Ich möchte noch einmal etwas zum Glänzen bringen“, sagt er. Was er zu diesem Zeitpunkt nicht weiß: Herr Nowak hat ein schreckliches Verbrechen begangen.
Johannes Bläsi ist Diakon der katholischen Sankt-Augustinus-Gemeinde Heilbronn und bestattet ehrenamtlich Menschen, um die sich das Ordnungsamt kümmert, weil sie weder Geld noch trauernde Angehörige zurücklassen. Menschen, für die sich keiner mehr interessiert. Keiner außer Johannes Bläsi.
Er holt einen roten Ordner aus dem Regal, auf den er in Schreibschrift „Armenbegräbnisse“geschrieben hat, und blättert durch die Seiten. Mit ethnografischer Sorgfalt dokumentiert er hier die Ergebnisse seiner Recherchen. Da ist die Physiotherapeutin, die wegen hoher Schulden ihre Praxis auch als 80-Jährige weiterführte. Da ist der Ingenieur, der sich in seiner Freizeit für junge Menschen engagierte und dennoch einsam starb. Der Buddhist, an dessen Grab dank Bläsi dreißig Mönche sangen, der gescheiterte Firmenmanager neben der Obdachlosen. Armut kann in Deutschland jeden treffen.
Zwischen 40 und 50 Armenbegräbnisse organisieren Bläsi und sein evangelischer Kollege von der Mitternachtsmission im Jahr. Seit sie 2008 gemeinsam den Arbeitskreis Würdige Armenbestattung gegründet haben, steigt die Zahl kontinuierlich. Ausgerechnet in einer Stadt, die laut Statistik das höchste Pro-KopfEinkommen in Deutschland hat. In Berlin sind es jährlich mehr als 2000 Bestattungen.
Wenn er von den Erfolgen seiner Recherche erzählt, dann schwingen Stolz und Begeisterung in seiner Stimme. „Einmal hatte ich nur die Adresse, und den Namen des Toten: Günther Jacobi. Also bin ich zu seiner Wohnung. Im Haus war ein Friseursalon,
und die Friseurin sagte mir, dass Jacobi manchmal Nebenrollen im Theater Heilbronn spielte. Dort erzählten sie mir von seinem ehemaligen Mentor, dem Schauspieler Peter Sodann.“So erfuhr Bläsi, was für ein eleganter, aber auch aufbrausender und zuletzt einsamer Mensch Jacobi war. In der DDR ein erfolgreicher Schauspieler, bekam er im Westen kaum noch Engagements. Zwei Wochen lag er tot in seiner Wohnung, ehe er gefunden wurde.
Es sind Bruchstücke zersplitterter Leben. Bläsi sammelt sie ein und setzt sie zusammen. Er klingelt bei Nachbarn, ruft im Altenheim an und
So gebe ich den Toten, aber auch meinem Amt, die Würde zurück. Totengräber Thomas Frech über die Zeremonie
geht in die Kneipe am letzten
Wohnort des Verstorbenen.
Johannes Bläsi wird zum Detektiv. So schwer die Schicksale der Menschen manchmal auch sind, daran Anteil zu nehmen ist für ihn ein Geschenk.
Begegnungen mit Menschen fehlten dem Schreiner im Berufsalltag. Schon als Jugendlicher war er bei den Pfadfindern, arbeitete später mit seiner Frau drei Jahre in einem Entwicklungsprojekt in Uganda. Zurück in Deutschland bemerkte er stärker die Armut im eigenen Land. 2004 machte er eine Ausbildung zum Diakon im Zivilberuf und half Obdachlosen in Heilbronn. Von ihnen erfuhr er, wie die Armenbestattungen abliefen: Der Totengräber trug die Urne zum Grab und schaufelte es zu, manchmal zwischen Laubkehren und Mittagspause. Das erschien Bläsi würdelos. Er wollte die Menschen vom Rande der Gesellschaft wenigstens in diesem letzten Moment zurück in die Gemeinschaft holen, in den Kreis von Angehörigen und Freunden, in die Kirche.
Am Anfang seiner Spurensuche in Herr Nowaks Leben steht Bläsi vor einem Mehrfamilienhaus in Heilbronn. Die Fassade ist schmutzig, vor dem Haus verläuft eine Hauptstraße, gegenüber liegt der Alte Friedhof. Bläsi blickt auf die vielen handschriftlich beschriebenen Klingelschilder, wo ihm ein zweiter Name auf Nowaks Plakette auffällt. Es ist der Name einer Frau. „Von einer Lebensgefährtin oder Mitbewohnerin wusste ich nichts. Ob sie noch hier wohnt?“Er läutet, doch nichts passiert. Dann klingelt er bei den Nachbarn.
Der Türöffner summt, Bläsi tritt ein, eine Frau erscheint im Türrahmen. „Was wollen Sie?“Ihr Deutsch ist brüchig, ihr Tonfall forsch. Bläsi stellt sich vor und geht ihr ein paar Stufen entgegen. „Kannten Sie Herrn Nowak?“– „Nur flüchtig.“– „Was war er für ein Mensch?“– „Ich weiß nicht.“– „Lebt die Frau, mit der er zusammengewohnt hat, noch hier?“Die Nachbarin bekommt große Augen. „Wissen Sie das nicht? Sie ist auch tot“, sagt sie und umklammert mit beiden Händen ihren Hals, als würde sie sich selber würgen, lässt dann ab und schneidet sich mit der einen Hand über die Pulsadern der anderen. „Er hat sie umgebracht und dann sich selbst.“Einen Moment ist es still im Treppenhaus. Dann steigt Bläsi weiter die Treppe hinauf. „Was wissen Sie sonst über Herrn Nowak? Seit wann lebte er hier?“In knappen Sätzen erzählt die Nachbarin, was sie weiß. Nowak wurde in Polen geboren, war Lastwagenfahrer und lebte vier Jahre in diesem Haus. Seine Lebensgefährtin wollte sich von ihm trennen, deshalb hat er sie umgebracht.
Zurück auf der Straße schüttelt Bläsi gedankenverloren den Kopf. „Das ist mir noch nie passiert.“Soll er einen Mörder bestatten? Er schaut auf: „Ich werde es machen, keine Frage.“Für ihn hat jeder Mensch das Recht auf eine würdige Bestattung.
Eine Woche später, am Tag von Nowaks Beerdigung, betritt Totengräber Thomas Frech die Trauerhalle auf dem Hauptfriedhof Heilbronn. An der Wand prangen die Worte: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst.“Frech ist in olivgrüner Bundfaltenhose und Jacke erschienen, auf dem Kopf eine Mütze, wie die eines Kapitäns, nur grau. Er wird die Urne zum Grab tragen, als Steuermann auf dem Weg. „Früher haben wir Totengräber die Begräbnisse des Ordnungsamtes in Arbeitskleidung durchgeführt, manche haben die Urne in der Latzhose zum Grab getragen, es war ja sonst niemand dabei.“Das ist heute anders. Frech und seine Kollegen wechseln vor jeder Bestattung Latzhose gegen Uniform, auch wenn sie mit Bläsi alleine am Grab stehen. Frech sagt: „So gebe ich den Toten, aber auch meinem Amt die Würde zurück.“
Er zündet die Kerzen im Raum an, holt Nowaks Urne aus dem Nebenzimmer und stellt sie auf ein kleines Podest. Eigentlich ist es nur eine Aschekapsel, die Nowaks sterbliche Überreste birgt. Für eine herkömmliche Urne hat das Ordnungsamt kein Budget. Deutsche Ordnungsämter bezahlen für eine „einfache Bestattung“zwischen 800 und 3000 Euro, je nach Gemeinde und Todesumstand. Eine private Bestattung kostet im Schnitt 7000 Euro.
Zwei Männer und zwei Frauen betreten die Trauerhalle auf dem Hauptfriedhof und setzen sich in die hinteren Reihen, die restlichen Stühle bleiben leer. Bläsi kommt in einem weißen, langen Gewand, der sogenannten Albe, über der Schulter eine lilafarbene Stola. Unter seinem Arm klemmt eine Mappe, in den Händen hält er einen grünen Zweig und einen Becher mit Weihwasser. Er begrüßt die vier Anwesenden: „Ich danke euch, dass ihr gekommen seid, eurem Freund die letzte Ehre zu erweisen.“Als er merkt, dass sie kein Deutsch verstehen, spricht er Englisch.
Die vier sind ehemalige Arbeitskollegen aus Polen. Bläsi wird jedes Detail, das er von ihnen erfährt, in die Trauerrede einfließen lassen. Er klappt seine Mappe auf und erzählt aus Nowaks Leben: „So schrecklich es ist, was in den letzten Stunden seines Lebens geschah, es gab auch lichte und schöne Momente.“Er wendet sich an die Anwesenden. „Nowak wurde in Polen geboren. Als Kind wuchs er in einer Adoptivfamilie auf, beide Eltern sind bereits verstorben. Er selbst hat zwei Kinder aus erster Ehe. Sein Sohn sagte mir am Telefon, er sei ein guter Vater gewesen. Vielleicht wollte er seinen Kindern eine bessere Zukunft schenken, als er vor viereinhalb Jahren nach Deutschland kam und hier als Lastwagenfahrer arbeitete. Seine Arbeitskollegen sagen, er sei ein lustiger Mensch gewesen, der gerne Witze machte.“Johannes Bläsi hält inne, denn was dann in Nowaks Leben geschah, kann auch er nicht verstehen: „Wir wissen nicht, was ihn antrieb in den letzten Stunden. Doch über ein ganzes Menschenleben zu richten, das liegt allein bei Gott.“Dann betet er für Nowak: „Herr, ich bitte dich: Empfange ihn und blicke mit ihm auf sein Leben zurück.“Auch für die Angehörigen der Ermordeten betet er. „Stehe ihnen bei und spende ihnen Trost und Kraft in dieser schweren Zeit.“
Nach der Rede läuft die Trauergemeinde den Friedhofsweg entlang, um Nowak zum ausgehobenen Grab zu bringen. Voran geht Frech mit der Urne, hinten die vier Polen. Mittendrin schreitet Johannes Bläsi. Auf dem Urnenfeld für anonyme Bestattungen, einer schmucklosen Wiese, lässt der Totengräber Thomas Frech die Urne ins Grab. Bläsi besprengt die Urne mit Weihwasser, wirft Erde darauf und spricht das Vaterunser. Dann wendet er sich den vier Polen zu, die Blumen niederlegen und Grabkerzen anzünden. Er hebt die Hände über ihre Köpfe und segnet auch sie. „Gott beschütze euch und geleite euch sicher in eure Heimat, zurück zu Freunden und Familie.“
Kein Grabstein, kein Kreuz und keine Plakette werden an Herrn Nowak erinnern. In wenigen Minuten wird er nur noch ein Aktenzeichen in den Unterlagen des Friedhofsamtes sein. Und ein weiterer Name mit einer Geschichte im Archiv von Johannes Bläsi.