Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
„Hochsensible nehmen alles stärker wahr“
Warum Eltern ihre Kinder unabsichtlich krank machen – Kinderarzt und Autor Peter Liffler sieht die Ursachen von Allergien und Neurodermitis im zentralen Nervensystem
Krankheiten des atopischen Formenkreises, von Neurodermitis über Asthma bis hin zum Heuschnupfen, sind gerade in den westlichen Ländern eine Geißel der Menschheit. In seinem neuen Buch „Der AllergieCode“beschreibt der renommierte Kinderarzt Peter Liffler völlig neue Ansätze der Behandlung, basierend auf einer mehrjährigen Studie. André Wesche sprach mit dem Chefarzt der Kinderklinik Bellevue auf Fehmarn über die Erkenntnisse seiner Forschung.
Herr Dr. Liffler, wer bekommt eine Allergie?
Das ist nicht einfach zu beantworten. Wir kennen einige eindeutige Risikofaktoren: Bedeutsam ist beispielsweise die atopische Veranlagung der Eltern. Wenn zwei Eltern atopisch veranlagt sind, ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein gemeinsames Kind auch eine Allergie entwickelt, natürlich deutlich höher, als wenn nur eines oder kein Elternteil eine entsprechende Neigung hat. Das heißt aber nicht, dass zwei schwer atopisch veranlagte Eltern keine kerngesunden Kinder haben können. Auch die Altersgruppe, das Geschlecht und der sozioökonomische Status – besser gebildete und sozial höherstehende Menschen erkranken häufiger – spielen eine Rolle. Und die Größe des Wohnorts zählt dazu. In großen Städten wie Berlin ist der Allergikeranteil am höchsten.
Sie sind nun auf einen weiteren Risikofaktor gestoßen?
Ja, die Hochsensibilität. Ich habe diesen Zusammenhang seit vielen Jahren vermutet. Ich habe mich aber lange Zeit zurückgehalten, weil ich nie einen schlüssigen Beweis dafür erbringen konnte. Dazu habe ich eine sogenannte „Peer Review Studie“durchgeführt, die vor ihrer Publizierung von einem Expertengremium überprüft wurde. Der Zusammenhang zwischen Hochsensibilität und Atopie ist nun wissenschaftlich belegt. Nicht nur ich, sondern namhafte Wissenschaftler halten diesen Zusammenhang für klinisch bedeutsam. So können hochsensible Eltern ihre Kinder mit ihrer erhöhten Responsivität unabsichtlich krank machen.
Kann theoretisch jeder Mensch jederzeit eine Allergie gegen alles Denkbare entwickeln?
Man kann zwar eine Risikoeinschätzung vornehmen, wir kennen derzeit aber keinen Risikofaktor, der in jedem Fall zur Allergie führt. Entscheidend ist die Veranlagung zur Atopie. Die Allergie ist neben dem Heuschnupfen, der Neurodermitis und dem Asthma bronchiale nur eine der Erkrankungen des sogenannten atopischen Formenkreises. Diese verschiedenen Ausdrucksformen der Atopie können in jeder beliebigen Kombination auftreten.
Die Hochsensibilität ist offenbar ein bedeutsamer Risikofaktor zur Entwicklung und Aufrechterhaltung der Atopie. Hochsensible Mütter neigen beispielsweise zur Überbehütung und zur Entwicklung symbiotischer Beziehungen. Dieser Erziehungsstil behindert die Ablösung und kann zu Krankheiten und zu dauerhaften Störungen der psychischen Entwicklung führen.
Woran lässt sich die Sensibilität eines Menschen festmachen?
Ich habe mich von der biologischen Seite genähert und gefragt, wo man die Sensibilität überhaupt ansiedeln kann. Was passiert in jenem Teil unseres Gehirns, der für das Bewusstsein nicht zugänglich ist, dem Zwischenhirn? Alles, was wir irgendwie wahrnehmen, geht zunächst einmal da hinein. Dort wird es sortiert und gefiltert. In unserem Bewusstsein kommt etwas an, was mit der Wirklichkeit oft wenig zu tun hat. Jeder Mensch sieht die Welt im Grunde genommen mit anderen Augen. Die Hochsensiblen nehmen alles gefühlsbetonter wahr. Die Emotionen spielen bei ihnen eine große Rolle. Gefühle entstehen unbewusst, nehmen aber Einfluss auf das, was wir wahrnehmen. Das Entscheidende ist, dass diese unterbewusste Wahrnehmungsverarbeitung in unmittelbarem Kontakt zu den Organen steht, die unser körperliches Gleichgewicht bewirken, dem Hypothalamus, der über die Hypophyse dafür sorgt, dass wir den jeweiligen Umweltanforderungen immer optimal angepasst sind. Wenn das Unterbewusstsein etwas als bedrohlich wahrnimmt, dann reagiert der Körper unmittelbar und nicht über das Großhirn. Ein Mensch, der sehr sensibel ist, nimmt alle Reize, vor allem auch negative, viel empfindlicher wahr und es kommt viel schneller zu vegetativen Reaktionen. Auch auf Reize, die harmlos sind. Es besteht eine Neigung zum Fehlalarm!
War es von Beginn an klar, dass es für Ihr Buch einen autobiografischen Ansatz brauchen würde?
Ja, es gab zwei Gründe, die mich dazu veranlasst haben, meinen Lebensweg zugrunde zu legen. Vor fünfzig Jahren litt etwa ein Prozent der Bevölkerung an Allergien. Heute erkranken 48 Prozent der Deutschen irgendwann im Leben daran. Ich bin in diesem Zeitraum aufgewachsen, habe studiert und als Arzt praktiziert. Zeitgleich muss etwas passiert sein, das zu dieser Entwicklung geführt hat. Ich befürchtete schon in den 1970er-Jahren die Folgen gesellschaftlicher Fehlentwicklungen für die Gesundheit der Menschen und interessierte mich für die Psychosomatische Medizin.
Der zweite Grund hängt mit meinen Beobachtungen bei den Eltern neurodermitiskranker Kinder zusammen. Ich habe mir die Familien immer sehr genau angeschaut und mich ausführlich mit ihnen über ihren Lebensweg, ihre Konflikte und Probleme unterhalten. Diese Eltern erschienen mir lange Zeit als völlig normal. Sie waren freundlich, offen und liebevoll im Umgang mit ihren Kindern. Ich fühlte mich oft an meine eigenen Eltern erinnert.
Inwiefern?
Während meiner Weiterbildungszeit hatte ich zum ersten Mal Kontakt mit Eltern an Neurodermitis erkrankter Kinder. Die haben mich manchmal fast zur Weißglut gebracht. Wenn ich ihre Kinder untersuchen oder ihnen Blut abnehmen musste, konnten sie nicht loslassen und redeten ununterbrochen auf das Kind ein, dass ihm nichts passieren würde und alles gut werde. Diese Situationen haben mich an meine Mutter erinnert. Eine ganz liebe, fürsorgliche, überbehütende Frau. Was die Leute nicht sahen, war, wie sehr sie mich vereinnahmt hat. Wir waren Flüchtlinge und meine Mutter wollte unser Leben so schnell wie möglich wieder in geordnete Bahnen lenken. Und ich musste dafür herhalten, musste auf das Gymnasium, musste Ministrant werden und sollte mal Theologie studieren! Meine Mutter hatte versucht, sich ihre Wünsche und ihre Ziele über mich zu verwirklichen. Wenn Eltern ihren Kindern eine solche Verantwortung aufladen, ertragen das die Kinder nicht.
Ihr besonderes Interesse gilt an Neurodermitis erkrankten Kindern. Sind Ihre neuen Erkenntnisse ohne Weiteres auch auf Heuschnupfen & Co. zu übertragen?
Absolut. Die Studie wurde nicht etwa an Kindern mit Neurodermitis durchgeführt, sondern mit atopisch veranlagten Eltern. Die Mehrzahl hatte Allergien, viele hatten Heuschnupfen, ein paar Asthma und nur drei Prozent litten unter Neurodermitis. Die Studie mit diesen Leuten hat zu den Ergebnissen geführt, die ich im Buch darlege. Die Hochsensibilität habe ich bei atopisch veranlagten Erwachsenen nachgewiesen. Diese Erkenntnisse treffen insofern nicht nur auf Neurodermitis zu, sondern auf alle Erkrankungen des atopischen Formenkreises.
Wir haben 75 Jahre vergeblich nach den Ursachen dieser Krankheiten, nach Stress auslösenden Faktoren gesucht und übersehen, dass Stress auch ohne das Vorhandensein eines solchen Stressors möglich ist. Mit dem Nachweis des Zusammenhangs zwischen Hochsensibilität und Atopie haben wir erstmals einen Anhaltspunkt für eine ursächliche Behandlung gefunden. Wenn wir die Zunahme dieser Volkskrankheit stoppen wollen, dürfen wir sie nicht länger nur da behandeln, wo sie sichtbar werden, sondern vor allem da, wo sie ihren Ausgang nehmen – im zentralen Nervensystem.