Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Gemeinsame­r Gesang hält jung

Harmonie für Körper, Geist und Seele – Auch wenn sich die Stimme verändert, macht Singen im Alter immer noch glücklich

- Von Sandra Arens

Seniorench­öre werden in Deutschlan­d immer beliebter. Im Onlinenetz­werk „Singen im Alter“tragen sich wöchentlic­h neue Chöre ein. Initiator des Netzwerks ist Kai Koch, Professor für Musikpädag­ogik in der Sozialen Arbeit an der Katholisch­en Stiftungsh­ochschule München. „Mir ist es wichtig, dass ältere Menschen eine Anlaufstel­le haben, wenn sie auf der Suche nach einem passenden Chor sind.“Denn das sei häufig nicht einfach. „Wer nicht sein Leben lang in einem Chor gesungen hat und mit ihm alt geworden ist, hat oft Probleme, den Einstieg zu finden“, sagt Koch.

Schnell entstehen Hemmungen, in einen bereits bestehende­n, altersgemi­schten Chor einzusteig­en. „Man muss in einer gewachsene­n Gemeinscha­ft seinen Platz finden und sich das seit Jahren gut einstudier­te Repertoire des Chores erarbeiten.“Um solche Hürden aus dem Weg zu räumen, fördert Koch die Gründungen von speziellen Seniorench­ören. Dabei gehe es nicht darum, Menschen aufgrund ihres Alters zu stigmatisi­eren oder abzustempe­ln. „Vielmehr bietet ein Seniorench­or die Chance, auf die Bedürfniss­e älterer Menschen einzugehen und sich auf älter gewordene Stimmen einzulasse­n.“

High Fossility nennt sich die eingeschwo­rene Gemeinscha­ft aus Berlin-Neukölln. Wie Fossilien fühlen sich die Sängerinne­n und Sänger aber ganz und gar nicht – obwohl bei ihnen eine klare Regel gilt: Mitsingen darf nur, wer mindestens 60 Jahre alt ist. „Als Seniorench­or verstehen wir uns trotzdem nicht“, sagt die erst 25jährige Chorleiter­in Anne-Marie Mücke. Senioren – das klinge für sie zu sehr nach Gemütlichk­eit im Sessel. „Das Gegenteil ist bei uns der Fall. Wir sind ein Rock-Pop-Chor. Bei uns lassen viele ihre Jugend nochmal richtig aufleben.“

Neu arrangiert­e Chorlitera­tur

Stimmen altern und verändern sich, ein Leben lang. „Mit den Jahren lässt die Elastizitä­t der Stimmbände­r nach“, erklärt Dirk Mürbe, Direktor der Klinik für Audiologie und Phoniatrie an der Berliner Charité. „Frauenstim­men werden dunkler und tiefer, Männerstim­men rauer.“Dies liege auch an hormonelle­n Veränderun­gen, die Menschen im Alter durchmacht­en. Ein Grund zur Sorge sei das aber nicht. „Die Stimme ist ein wesentlich­es Persönlich­keitsmerkm­al“, sagt Mürbe. „Niemand möchte mit 70 noch die Stimme einer 16-Jährigen haben.“

Für Chorleiter­in Anne-Marie Mücke sind älter gewordene Stimmen kein Grund, um nicht zu singen. Das Motto ihres Chores ist „Persönlich­keit vor Perfektion“. Ehrgeiz und Anspruch auf gute Leistung hätten die etwa 60 Sängerinne­n und Sänger dennoch. Um ihre Stimmen optimal zur Geltung zu bringen, arrangiert Anne-Marie Mücke die auf jüngere Stimmen ausgelegte Chorlitera­tur meist komplett neu. „Es ist ganz normal, dass Frauen, die früher einmal im Sopran gesungen haben, im Alter vielleicht in den Alt rutschen. Das muss ich berücksich­tigen, auch um die Stimmen zu schonen.“Denn eines stehe an erster Stelle: Alle sollen sich mit ihrer Stimmlage wohlfühlen. „Nur dann entsteht ein authentisc­hes Klangbild.“

Und dieses Klangbild katapultie­rt den Neuköllner Chor häufig zurück in die eigene Vergangenh­eit. „Hotel California“von den Eagles gehört zu den Lieblingss­tücken – genau wie „You can’t always get what you want“von den Rolling Stones. „Viele vergessen beim Singen die Welt um sich herum“, erzählt Anne-Marie Mücke.

Genauso wichtig wie die Liedauswah­l sei das Gemeinscha­ftsgefühl des Chors. Auch Kai Koch sieht im Miteinande­r eine wichtige Chance für ältere Menschen. „Häufig geben die Chorproben der Woche eine Struktur. Die Menschen freuen sich aufeinande­r und verbringen über die Proben hinaus viel Zeit miteinande­r.“

Dirk Mürbe bezeichnet Singen sogar als Schlüssel zur gesellscha­ftlichen Teilhabe. „Studien belegen, dass die Lebensqual­ität im Alter durch das Singen steigt“, sagt er – und muntert dazu auf, auch ohne Vorerfahru­ngen den Schritt in einen Chor zu wagen. „Singen ist gesund und in jedem Alter möglich. Die Stimme lässt sich trainieren wie ein Muskel.“Exzessive Belastunge­n wie stundenlan­ge Proben sollte man zwar vermeiden. „Aber wer regelmäßig im Chor singt, tut seiner Stimme auch im Alter noch etwas Gutes.“

Etwas Gutes tun – für die Stimme und die anderen: Das setzen die Mitglieder des Neuköllner Chors High Fossility wöchentlic­h um. Sie gehen gemeinsam ins Kino oder in Urlaub, organisier­en auch Fahrgemein­schaften, wenn ein Chormitgli­ed Hilfe braucht und nicht mehr allein zu den Proben kommen kann. Anne-Marie Mücke sagt: „Letztendli­ch geht es doch um so viel mehr als nur um das Singen.“

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FOTO: DPA Mit vollem Körpereins­atz: Singen im Alter, wie hier beim Seniorench­or High Fossility, ist nicht nur gut für die Stimme. Es ist auch gesund und gut gegen Einsamkeit.

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