Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Gemeinsamer Gesang hält jung
Harmonie für Körper, Geist und Seele – Auch wenn sich die Stimme verändert, macht Singen im Alter immer noch glücklich
Seniorenchöre werden in Deutschland immer beliebter. Im Onlinenetzwerk „Singen im Alter“tragen sich wöchentlich neue Chöre ein. Initiator des Netzwerks ist Kai Koch, Professor für Musikpädagogik in der Sozialen Arbeit an der Katholischen Stiftungshochschule München. „Mir ist es wichtig, dass ältere Menschen eine Anlaufstelle haben, wenn sie auf der Suche nach einem passenden Chor sind.“Denn das sei häufig nicht einfach. „Wer nicht sein Leben lang in einem Chor gesungen hat und mit ihm alt geworden ist, hat oft Probleme, den Einstieg zu finden“, sagt Koch.
Schnell entstehen Hemmungen, in einen bereits bestehenden, altersgemischten Chor einzusteigen. „Man muss in einer gewachsenen Gemeinschaft seinen Platz finden und sich das seit Jahren gut einstudierte Repertoire des Chores erarbeiten.“Um solche Hürden aus dem Weg zu räumen, fördert Koch die Gründungen von speziellen Seniorenchören. Dabei gehe es nicht darum, Menschen aufgrund ihres Alters zu stigmatisieren oder abzustempeln. „Vielmehr bietet ein Seniorenchor die Chance, auf die Bedürfnisse älterer Menschen einzugehen und sich auf älter gewordene Stimmen einzulassen.“
High Fossility nennt sich die eingeschworene Gemeinschaft aus Berlin-Neukölln. Wie Fossilien fühlen sich die Sängerinnen und Sänger aber ganz und gar nicht – obwohl bei ihnen eine klare Regel gilt: Mitsingen darf nur, wer mindestens 60 Jahre alt ist. „Als Seniorenchor verstehen wir uns trotzdem nicht“, sagt die erst 25jährige Chorleiterin Anne-Marie Mücke. Senioren – das klinge für sie zu sehr nach Gemütlichkeit im Sessel. „Das Gegenteil ist bei uns der Fall. Wir sind ein Rock-Pop-Chor. Bei uns lassen viele ihre Jugend nochmal richtig aufleben.“
Neu arrangierte Chorliteratur
Stimmen altern und verändern sich, ein Leben lang. „Mit den Jahren lässt die Elastizität der Stimmbänder nach“, erklärt Dirk Mürbe, Direktor der Klinik für Audiologie und Phoniatrie an der Berliner Charité. „Frauenstimmen werden dunkler und tiefer, Männerstimmen rauer.“Dies liege auch an hormonellen Veränderungen, die Menschen im Alter durchmachten. Ein Grund zur Sorge sei das aber nicht. „Die Stimme ist ein wesentliches Persönlichkeitsmerkmal“, sagt Mürbe. „Niemand möchte mit 70 noch die Stimme einer 16-Jährigen haben.“
Für Chorleiterin Anne-Marie Mücke sind älter gewordene Stimmen kein Grund, um nicht zu singen. Das Motto ihres Chores ist „Persönlichkeit vor Perfektion“. Ehrgeiz und Anspruch auf gute Leistung hätten die etwa 60 Sängerinnen und Sänger dennoch. Um ihre Stimmen optimal zur Geltung zu bringen, arrangiert Anne-Marie Mücke die auf jüngere Stimmen ausgelegte Chorliteratur meist komplett neu. „Es ist ganz normal, dass Frauen, die früher einmal im Sopran gesungen haben, im Alter vielleicht in den Alt rutschen. Das muss ich berücksichtigen, auch um die Stimmen zu schonen.“Denn eines stehe an erster Stelle: Alle sollen sich mit ihrer Stimmlage wohlfühlen. „Nur dann entsteht ein authentisches Klangbild.“
Und dieses Klangbild katapultiert den Neuköllner Chor häufig zurück in die eigene Vergangenheit. „Hotel California“von den Eagles gehört zu den Lieblingsstücken – genau wie „You can’t always get what you want“von den Rolling Stones. „Viele vergessen beim Singen die Welt um sich herum“, erzählt Anne-Marie Mücke.
Genauso wichtig wie die Liedauswahl sei das Gemeinschaftsgefühl des Chors. Auch Kai Koch sieht im Miteinander eine wichtige Chance für ältere Menschen. „Häufig geben die Chorproben der Woche eine Struktur. Die Menschen freuen sich aufeinander und verbringen über die Proben hinaus viel Zeit miteinander.“
Dirk Mürbe bezeichnet Singen sogar als Schlüssel zur gesellschaftlichen Teilhabe. „Studien belegen, dass die Lebensqualität im Alter durch das Singen steigt“, sagt er – und muntert dazu auf, auch ohne Vorerfahrungen den Schritt in einen Chor zu wagen. „Singen ist gesund und in jedem Alter möglich. Die Stimme lässt sich trainieren wie ein Muskel.“Exzessive Belastungen wie stundenlange Proben sollte man zwar vermeiden. „Aber wer regelmäßig im Chor singt, tut seiner Stimme auch im Alter noch etwas Gutes.“
Etwas Gutes tun – für die Stimme und die anderen: Das setzen die Mitglieder des Neuköllner Chors High Fossility wöchentlich um. Sie gehen gemeinsam ins Kino oder in Urlaub, organisieren auch Fahrgemeinschaften, wenn ein Chormitglied Hilfe braucht und nicht mehr allein zu den Proben kommen kann. Anne-Marie Mücke sagt: „Letztendlich geht es doch um so viel mehr als nur um das Singen.“