Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Der große Zoff bleibt aus
Im Rennen um den Parteivorsitz werben 13 Sozialdemokraten in Filderstadt um die Gunst der Mitglieder
FILDERSTADT - Das Wiederbelebungsprogramm für die Sozialdemokratie funktioniert – zumindest für zwei Stunden an diesem Samstagnachmittag. 1000 Besucher sind in die „Filharmonie“nach Filderstadt gekommen. Ausgelegt sei diese für 800 Gäste, erzählt SPD-Landessprecher Andreas Reißig – man sei überrascht gewesen von dem Andrang. Das sagt viel aus über das Selbstvertrauen der Sozialdemokraten im Jahr 2019. Seit dem Start der 23 Regionalkonferenzen in Saarbrücken, auf denen sieben Bewerberpaare und mit Karl-Heinz Brunner ein Einzelbewerber um die Gunst der Mitglieder buhlen, reibt sich die SPD über so viel Zuspruch und Interesse fast schon ungläubig ihre Augen.
Auch nach Filderstadt sind mehr Menschen gekommen als angenommen, die vorherrschende Haarfarbe unter den Besuchern ist Grau. Einige junge Erwachsene und Jugendliche ziehen den Altersschnitt zumindest um einige Jahre nach unten.
Gemeinsam werden sie, nach dem Ende der Regionalkonferenzen, über den Chefposten entscheiden. Dieses Verfahren ist ein Novum für die gebeutelte SPD, die nach dem Abgang ihrer Ex-Parteichefin Andrea Nahles eine neue Spitze sucht. Vorab hatte es Bedenken gegen dieses Verfahren gegeben. „Ich hatte ein bisschen Schiss“, sagt auch der baden-württembergische Landeschef Andreas Stoch in seiner Begrüßung.
Oft wurden die Landeskonferenzen mit einer Casting-Show verglichen, die in Filderstadt eher wirkt wie eine kurzweilige Mischung aus Parteitag, Kammerspiel und politischer Stand-up-Comedy.
Ersehnter Neuanfang
Den Anfang macht in Filderstadt Boris Pistorius. Der niedersächsische Innenminister, der ohne seine Partnerin Petra Köpping auftreten muss, gratuliert den Zuhörern zunächst für den Auswärtssieg des VfB Stuttgart. Wie er so dasteht, ohne Krawatte, eine Hand zeitweise in der Tasche, wartet man auf die nächste Pointe. Pistorius will eine „Politik des ehrlichen Realismus“machen und nur das versprechen, was man auch halten könne. Das Tandem Michael Roth (so etwas wie der Robert Habeck der Sozialdemokraten) und Christina Kampmann steht wohl am ehesten für den ersehnten Neuanfang der Sozialdemokraten. Kampmann ist mit 39 Jahren die jüngste Kandidatin im Bewerberfeld, auch der zehn Jahre ältere Außen-Staatssekretär Michael Roth wirkt juvenil. Sie sehen die „Vereinigten Staaten von Europa“als Bollwerk gegen den US-Präsidenten Donald Trump. Die SPD müsse wieder die Partei der Weltverbesserer und Mutmacher werden. Kampmann plädiert für mehr Chancengleichheit in der Schule und für auskömmliche Renten.
Kampmann und Roth bekommen dafür starken Applaus – genau wie das wohl ungewöhnlichste Paar an diesem Nachmittag, Gesine Schwan (die einst den konservativen Seeheimer Kreis mitbegründete) und der Parteilinke Ralf Stegner. In hohem Tempo fordert er einen starken Sozialstaat, die Bürgerversicherung, kostenfreie Kinderbetreuung, eine Vermögensteuer. Mit seiner Forderung nach Solidarität ist er nicht allein. Gerechtigkeit, der Kampf gegen Rechtspopulismus, mehr Klimaschutz – das sind an diesem Samstag häufig gehörte Forderungen. Die ganz großen Diskussionen bleiben daher aus.
Einzig zwei große Konfliktlinien ziehen sich durch das Bewerberfeld. Die eine lautet: Raus aus der Großen Koalition (wie es beispielsweise die Duos Karl Lauterbach/ Nina Scheer und Saskia Esken/Norbert WalterBorjans fordern), in der GroKo verbleiben (wofür Klara Geywitz und Finanzminister Olaf Scholz stehen). Zudem wird die schwarze Null von Scholz Ziel von Attacken. Vor allem Kampmann fordert statt des strikten Sparkurses „mehr Investitionen in unser Land“.
Das wird sie auf offener Bühne wohl noch bis zum 12. Oktober tun. In München stehen sich die Bewerber zum letzten Mal gegenüber. Danach stimmen erst die Mitglieder, dann im Dezember ein Parteitag ab.