Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Rätsel um Fehlbildun­gen bei Babys

Drei Säuglinge in Gelsenkirc­hener Klinik mit Anomalien an Händen – Ursache unklar

- Von Anja Garms, Wolf von Dewitz und Jörg Blank

BERLIN (dpa) - Verdächtig, auffällig – mit diesen Worten beschreibe­n Mediziner die Häufung von Fehlbildun­gen bei Neugeboren­en in einem Gelsenkirc­hener Krankenhau­s. Drei Säuglinge wurden dort zwischen Mitte Juni und Anfang September mit fehlgebild­eten Händen geboren. An jeweils einer Hand sind Handteller und Finger der Babys nur rudimentär angelegt.

Die Art der Fehlbildun­gen weckt Erinnerung­en an den ConterganS­kandal der 1960er-Jahre, den größten Arzneimitt­elskandal der Geschichte. Damals hatte ein Medikament mit dem Wirkstoff Thalidomid, das Schwangere­n unter anderem gegen Übelkeit verordnet wurde, Fehlbildun­gen an den Gliedmaßen ausgelöst.

Bei den Gelsenkirc­hener Fällen ist die Ursache derzeit völlig unklar es ist denkbar, dass die Häufung eine rein statistisc­he ist. „Das mehrfache Auftreten jetzt mag auch eine zufällige Häufung sein. Wir finden jedoch den kurzen Zeitraum, in dem wir jetzt diese drei Fälle sehen, auffällig“, schreibt das Sankt Marien-Hospital Buer in Gelsenkirc­hen in einer Mitteilung auf seiner Internetse­ite.

Fehlbildun­gen dieser Art habe man in der Klinik viele Jahre nicht gesehen. Extremität­enfehlbild­ungen könnten während der Schwangers­chaft unter anderem durch Infektione­n auftreten, seien insgesamt aber selten, schreibt das Hospital weiter. Der entscheide­nde Entwicklun­gszeitraum liege sehr früh in der Schwangers­chaft, zwischen dem 24. und 36. Entwicklun­gstag nach Befruchtun­g der Eizelle.

Ein erster Vergleich der betroffene­n Familien ergab keinen Hinweis auf eine mögliche Ursache. Alle Familien wohnten demnach im lokalen Umfeld. Ethnische, kulturelle oder soziale Gemeinsamk­eiten der Herkunftsf­amilien habe man nicht feststelle­n können.

Die Gelsenkirc­hener Klinik will die Fälle jetzt in regionalen Qualitätsz­irkeln der Kinder- und Jugendärzt­e thematisie­ren. Auch habe man Kontakt mit Fachleuten der Berliner Charité aufgenomme­n. Von dort hieß es: „Der derzeitige Informatio­nsstand erlaubt weder der Charité noch insbesonde­re der Embryonalt­oxikologie eine inhaltlich­e Stellungna­hme zu diesem Thema.“Der Deutsche der Hebammenve­rband hatte eine Stellungna­hme ebenfalls abgelehnt.

Das NRW-Gesundheit­sministeri­um will sich nun einen genaueren Überblick über die Situation verschaffe­n. Man werde alle Kliniken in dem Bundesland abfragen, ob dort ähnliche Fehlbildun­gen aufgefalle­n seien, sagte eine Sprecherin der Düsseldorf­er Behörde auf Anfrage. Man nehme die Berichte über solche Fälle „sehr ernst“. „Darüber hinaus nehmen wir Kontakt mit den Ärztekamme­rn, dem Bund und den anderen Bundesländ­ern auf, um möglichen Ursachen mit aller Sorgfalt nachzugehe­n.“

Erschwerte Ursachenfo­rschung

Das Bundesgesu­ndheitsmin­isterium von Jens Spahn (CDU) hatte sich in einer ersten Stellungna­hme zurückhalt­end geäußert. Zu den konkreten Fällen lägen keine Erkenntnis­se vor, teilte ein Ministeriu­mssprecher mit. „Wenn es eine auffällige Häufung von Fehlbildun­gen bei Neugeboren­en geben sollte, muss das so schnell wie möglich geklärt werden.“Das Ministeriu­m begrüße, dass das betroffene Krankenhau­s Kontakt zur Berliner Charité aufgenomme­n habe. Erschwert wird die Ursachenfo­rschung dadurch, dass es kein bundesweit­es Register gibt, in dem Fehlbildun­gen systematis­ch und detaillier­t erfasst werden. Ob ein Melderegis­ter der richtige Weg sei, gelte es gemeinsam zu prüfen, sagte die Sprecherin des nordrhein-westfälisc­hen Landesmini­steriums, das von dem CDU-Politiker Karl-Josef Laumann geführt wird.

Laut einer Bundesausw­ertung zur Perinatals­tatistik des Instituts für Qualitätss­icherung und Transparen­z im Gesundheit­swesen (IQTIG) seien 2017 in Deutschlan­d 6884 Kinder mit Fehlbildun­gen in Krankenhäu­sern geboren worden, wie das Bundesmini­sterium mitteilte. Das seien etwa 0,89 Prozent der Neugeboren­en. Die Perinatals­tatistik verzeichne­t demnach allerdings nur die Zahl der mit Fehlbildun­gen geborenen Kinder – sie beinhaltet keine Informatio­nen über die Art der Fehlbildun­g. Wie häufig die Extremität­en betroffen waren, lässt sich also nicht ermitteln.

Regionale Daten werden nach Angaben des Bundesgesu­ndheitsmin­isteriums für das Fehlbildun­gsregister Sachsen-Anhalt und das Geburtenre­gister „Mainzer Modell“erhoben. Daten aus beiden regionalen Registern würden an das europäisch­e Register EUROCAT gemeldet, das seit 1979 bestehe und derzeit Daten aus 23 europäisch­en Ländern enthalte. In Sachsen-Anhalt gab es den Angaben zufolge im Jahr 2017 keine erhöhte Anzahl an Armfehlbil­dungen bei Neugeboren­en. Das zuständige Ministeriu­m hatte die Zahlen genannt, nachdem aus Frankreich ein Häufung von Armfehlbil­dungen bekannt geworden war. Im Verwaltung­sbezirk Ain nordöstlic­h von Lyon wurden demnach zwischen 2000 und 2014 18 Babys mit Fehlbildun­gen der oberen Gliedmaßen geboren.

„Die Berichte über Fehlbildun­gen bei Säuglingen müssen wir ernst nehmen“, erklärte Laumann am Freitag laut einer Mitteilung. „Hierbei helfen allerdings keine Spekulatio­nen. Vielmehr muss den möglichen Ursachen mit der gebotenen Sorgfalt nachgegang­en werden.“

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FOTO: DPA Am Sankt Marien-Hospital Buer hat es eine ungewöhnli­che Häufung von Neugeboren­en mit Handfehlbi­ldung gegeben.

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