Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Die Qual der kleinen Schritte
Beim Rottweiler Treppenlauf im Thyssenturm bleibt kein Muskel locker
ROTTWEIL – Vierzigtausend Tonnen wiegt der Rottweiler Thyssenturm, so viel wie 8000 ausgewachsene Afrikanische Elefanten, und eine ähnliche Last fällt offenbar von einigen der 1000 Teilnehmer ab, als sie am Sonntag die letzte der 1390 Stufen erklommen haben. Sie japsen nach Luft, sie taumeln und werfen sich auf die blauen Chilloutmatratzen, kritisch beäugt vom Notarzt, der immer da ist, für den Fall der Fälle. Manche haben zwar braune Beine, sind aber im Gesicht so bleich wie die kalkweiße Außenhaut des Towers, die im dunkelblauen Himmel fast silbern glitzert, manche sind so roterhitzt, als seien sie auf Lavasteinen gelaufen statt auf bloßen Treppenstufen. Nur wenige können am Ende der 232 Höhenmeter, am Ende von Westeuropas höchstem Treppenhauslauf, noch lächeln. Die meisten dieser sehr vitalen Menschen sind an eben jenen Grenzen angelangt, die sie ausloten wollten. Der Fitness wegen. Des Adrenalinkicks wegen. Des Wettbewerbs wegen. Aber auch aus Spaß an der Bewegung – und am Schmerz.
Brandschützer am Anschlag
„Die Kunst der kleinen Schritte“, lautet ein schönes Gedicht von Antoine de Saint Exupérie, es handelt davon, Prioritäten zu setzen, wohlüberlegt einen Fuß vor den anderen zu setzen. In Rottweil wird ein anderes Gedicht vorgetragen: Die Qual der kleinen Schritte. „Es ist jedesmal ein bisschen wie sterben“, sagen sechs Feuerwehrmänner aus Koblenz, die jährlich zu zehn dieser Treppenläufe ausrücken, dabei ihre 26 Kilogramm Ausrüstung tragen und wie im Einsatz nur aus ihren Atemschutzmasken atmen. Aber stets machen die Brandschützer – wie auch die Polizisten – mit, aus Gründen der Berufsehre, der Tradition und aus Freude am Sich-Messen. „Mir ging es schon zur Hälfte nicht gut, wäre ich allein gewesen, wäre ich ganz sicher ausgestiegen und hätte gesagt: Arsch lecken“, sagt der Konstanzer Brandschützer Sven, 42. Aber weil er seinen zehn Jahre jüngeren Kollegen nicht im Stich lassen wollte, lief er weiter, auch wenn er beinahe kollabiert wäre. Der Lohn: Die beiden gewannen, in 15:06 Minuten. Treppenlaufen kann Extremsport sein.
Vor allem, wenn man ihn so betreibt wie der Erlanger Vize-Weltmeister Christian Riedl (39) und Görge Heimann (50) aus Köln. Heimann ist auch Präsident von Towerrunning Germany, des deutschen Nationalverbands, der gleich 50 Athleten in Rottweil an den Start schickt. Heimann wird nach Platz zwei bei der ersten Auflage diesmal Dritter („Ich wollte schneller laufen, aber mehr ging einfach nicht“), Riedl darf sich als Zweiter immerhin alter und neuer Deutscher Meister nennen. Er behält zudem seinen Streckenrekord, weil der Sieger Fabio Ruga aus Italien in 6:57 Minuten eine Sekunde langsamer ist als Riedl (diesmal 7:10) bei der Premiere 2018. Die Spitzenläufer nehmen teils drei Stufen auf einmal und ziehen sich auch mit beiden Händen am Geländer nach oben, sie hechten quasi ins Ziel und ihre Brustkörbe pumpen, als würden Luftballone darin aufgeblasen. Das kann nicht gesund sein. Ist es doch, widerspricht Heimann – und betreibt Werbung für das Towerrunning. „Die Krankenkassen unterstützen unsere Sportart. Jeder weiß, dass es im Alltag das Gesündeste ist, was man machen kann: Weniger Aufzug fahren, dafür Treppen steigen.“
Mit dem Aufzug geht es schneller
Riedl steht mit seiner Passion sogar im Guinness Buch der Rekorde. Er hält den Rekord für die meisten gelaufenen Höhenmeter in zwölf Stunden. 13 145 respektive 70 148 Stufen hat er im Franfurter „Tower 185“zurückgelegt, ist immer wieder mit dem Aufzug runter, um die Stufen wieder nach oben zu laufen. Alpinisten haben da im Vergleich keine Chance, spätestens bei 8800 Metern endet eben jeder Berg. Runterlaufen ist für Hochleistungstreppenläufer übrigens strengstens verboten. „Davon rührt der Muskelkater“, sagt Heimann. Sich zu quälen sei allerdings Grundvoraussetzung. „Ein berühmter Treppenläufer sagte immer: „You have to die“, du musst sterben. Wenn man oben noch Luft hat, hat man was falsch gemacht. Das ist das Schöne am Treppenlaufen: Man kann wirklich alles aus sich herausholen.“Bis zu 210 Pulsschläge haben die Besten am bittersüßen Ende.
In Rottweil soll der Treppenlauf weitergehen – als Breitensport. Man hoffe, auch einmal Standort für eine EM zu werden, sagt Christian Dillschnitter von der Veranstalteragentur Pulsschlag. Aber die Volkssportler sollen bleiben, auch aus Werbegründen. 380 000 Besucher waren bereits auf der Aussichtsplattform des Hochtechnologie-Turms, auf keinem deutschen Turm habe man so eine Aussicht, schwärmen die Stadtund die Thyssenvertreter. Übrigens kommt man sogar in 30 Sekunden zum Panorama, und das ohne explodierende Lungen. Mit dem Highspeedaufzug nämlich.