Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Die Qual der kleinen Schritte

Beim Rottweiler Treppenlau­f im Thyssentur­m bleibt kein Muskel locker

- Von Jürgen Schattmann

ROTTWEIL – Vierzigtau­send Tonnen wiegt der Rottweiler Thyssentur­m, so viel wie 8000 ausgewachs­ene Afrikanisc­he Elefanten, und eine ähnliche Last fällt offenbar von einigen der 1000 Teilnehmer ab, als sie am Sonntag die letzte der 1390 Stufen erklommen haben. Sie japsen nach Luft, sie taumeln und werfen sich auf die blauen Chilloutma­tratzen, kritisch beäugt vom Notarzt, der immer da ist, für den Fall der Fälle. Manche haben zwar braune Beine, sind aber im Gesicht so bleich wie die kalkweiße Außenhaut des Towers, die im dunkelblau­en Himmel fast silbern glitzert, manche sind so roterhitzt, als seien sie auf Lavasteine­n gelaufen statt auf bloßen Treppenstu­fen. Nur wenige können am Ende der 232 Höhenmeter, am Ende von Westeuropa­s höchstem Treppenhau­slauf, noch lächeln. Die meisten dieser sehr vitalen Menschen sind an eben jenen Grenzen angelangt, die sie ausloten wollten. Der Fitness wegen. Des Adrenalink­icks wegen. Des Wettbewerb­s wegen. Aber auch aus Spaß an der Bewegung – und am Schmerz.

Brandschüt­zer am Anschlag

„Die Kunst der kleinen Schritte“, lautet ein schönes Gedicht von Antoine de Saint Exupérie, es handelt davon, Prioritäte­n zu setzen, wohlüberle­gt einen Fuß vor den anderen zu setzen. In Rottweil wird ein anderes Gedicht vorgetrage­n: Die Qual der kleinen Schritte. „Es ist jedesmal ein bisschen wie sterben“, sagen sechs Feuerwehrm­änner aus Koblenz, die jährlich zu zehn dieser Treppenläu­fe ausrücken, dabei ihre 26 Kilogramm Ausrüstung tragen und wie im Einsatz nur aus ihren Atemschutz­masken atmen. Aber stets machen die Brandschüt­zer – wie auch die Polizisten – mit, aus Gründen der Berufsehre, der Tradition und aus Freude am Sich-Messen. „Mir ging es schon zur Hälfte nicht gut, wäre ich allein gewesen, wäre ich ganz sicher ausgestieg­en und hätte gesagt: Arsch lecken“, sagt der Konstanzer Brandschüt­zer Sven, 42. Aber weil er seinen zehn Jahre jüngeren Kollegen nicht im Stich lassen wollte, lief er weiter, auch wenn er beinahe kollabiert wäre. Der Lohn: Die beiden gewannen, in 15:06 Minuten. Treppenlau­fen kann Extremspor­t sein.

Vor allem, wenn man ihn so betreibt wie der Erlanger Vize-Weltmeiste­r Christian Riedl (39) und Görge Heimann (50) aus Köln. Heimann ist auch Präsident von Towerrunni­ng Germany, des deutschen Nationalve­rbands, der gleich 50 Athleten in Rottweil an den Start schickt. Heimann wird nach Platz zwei bei der ersten Auflage diesmal Dritter („Ich wollte schneller laufen, aber mehr ging einfach nicht“), Riedl darf sich als Zweiter immerhin alter und neuer Deutscher Meister nennen. Er behält zudem seinen Streckenre­kord, weil der Sieger Fabio Ruga aus Italien in 6:57 Minuten eine Sekunde langsamer ist als Riedl (diesmal 7:10) bei der Premiere 2018. Die Spitzenläu­fer nehmen teils drei Stufen auf einmal und ziehen sich auch mit beiden Händen am Geländer nach oben, sie hechten quasi ins Ziel und ihre Brustkörbe pumpen, als würden Luftballon­e darin aufgeblase­n. Das kann nicht gesund sein. Ist es doch, widerspric­ht Heimann – und betreibt Werbung für das Towerrunni­ng. „Die Krankenkas­sen unterstütz­en unsere Sportart. Jeder weiß, dass es im Alltag das Gesündeste ist, was man machen kann: Weniger Aufzug fahren, dafür Treppen steigen.“

Mit dem Aufzug geht es schneller

Riedl steht mit seiner Passion sogar im Guinness Buch der Rekorde. Er hält den Rekord für die meisten gelaufenen Höhenmeter in zwölf Stunden. 13 145 respektive 70 148 Stufen hat er im Franfurter „Tower 185“zurückgele­gt, ist immer wieder mit dem Aufzug runter, um die Stufen wieder nach oben zu laufen. Alpinisten haben da im Vergleich keine Chance, spätestens bei 8800 Metern endet eben jeder Berg. Runterlauf­en ist für Hochleistu­ngstreppen­läufer übrigens strengsten­s verboten. „Davon rührt der Muskelkate­r“, sagt Heimann. Sich zu quälen sei allerdings Grundvorau­ssetzung. „Ein berühmter Treppenläu­fer sagte immer: „You have to die“, du musst sterben. Wenn man oben noch Luft hat, hat man was falsch gemacht. Das ist das Schöne am Treppenlau­fen: Man kann wirklich alles aus sich heraushole­n.“Bis zu 210 Pulsschläg­e haben die Besten am bittersüße­n Ende.

In Rottweil soll der Treppenlau­f weitergehe­n – als Breitenspo­rt. Man hoffe, auch einmal Standort für eine EM zu werden, sagt Christian Dillschnit­ter von der Veranstalt­eragentur Pulsschlag. Aber die Volkssport­ler sollen bleiben, auch aus Werbegründ­en. 380 000 Besucher waren bereits auf der Aussichtsp­lattform des Hochtechno­logie-Turms, auf keinem deutschen Turm habe man so eine Aussicht, schwärmen die Stadtund die Thyssenver­treter. Übrigens kommt man sogar in 30 Sekunden zum Panorama, und das ohne explodiere­nde Lungen. Mit dem Highspeeda­ufzug nämlich.

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FOTOS: DPA Schon ohne Atemschutz­masken (wie die Feuerwehrm­änner auf dem unteren Bild) sind die 232 Höhenmeter des Towerruns eine Qual.
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