Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Die Drohung zeigt wohl Wirkung
In den EU-Haushaltsstreit kommt etwas Bewegung – Polen will Blockade bei Zugeständnissen aufgeben
BRÜSSEL - In der EU streiten Polen und Ungarn weiter mit den übrigen Mitgliedern um den eingefrorenen Haushalt. Zumindest eine Seite bewegt sich nun etwas – Kritiker warnen vor zu vielen Zugeständnissen der EU.
Polens stellvertretender Ministerpräsident Jarosław Gowin wollte Donnerstagabend eine Botschaft loswerden. Vor Journalisten sagte er in Brüssel, seine Regierung könnte ihre Blockade gegen den EU-Haushalt aufgeben, wenn der neue Rechtsstaatsmechanismus mit einer Protokollnotiz verbunden werde, aus der hervorgehe, dass mögliche Sanktionen sich ausschließlich auf missbräuchlich verwendete EU-Mittel beziehen, nicht auf allgemein den Rechtsstaat betreffende Fragen.
Eine entsprechende Zusicherung hatte Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen schon vergangene Woche vor dem EU-Parlament gegeben. Sie hatte ihre Dienste aber auch angewiesen, einen Plan B zu erarbeiten. Sollte das polnisch-ungarische Veto gegen den Corona-Hilfsfonds fortbestehen, werde man einen Weg finden, die Gelder im Rahmen der verstärkten Zusammenarbeit zu verteilen. Ungarn und Polen würden dann leer ausgehen. Für das Budget gibt es einen automatischen Plan B: Ohne Einigung wird monatlich ein Zwölftel der Vorjahressumme verteilt – allerdings nur für die Grundausgaben, also Verwaltung, Agrarbeihilfen und Verteidigung.
Möglich, dass diese Drohung Wirkung gezeigt hat. Den Journalisten erläuterte Gowin, dass ein Notbudget ungünstig für Polen und ebenfalls für die anderen 26 Länder wäre. Es sei deshalb im Interesse aller Europäer, einen guten Kompromiss für den Rechtsstaatsmechanismus zu finden. Der sieht vor, dass Gelder zurückgehalten werden können, wenn deren ordnungsgemäße Auszahlung von einem Mitgliedsstaat nicht garantiert werden kann. Das ist beispielsweise der Fall, wenn die Justiz nicht unabhängig von der Regierung ist und deshalb ihre Kontrollfunktion nicht mehr ausüben kann.
Die deutsche Ratspräsidentschaft gab sich schon vor Tagen zuversichtlich. Eine Einigung über den 750 Milliarden Euro schweren Corona-Aufbaufonds und das Budget für die kommenden sieben Jahre in Höhe von 1050 Milliarden Euro sei in greifbarer Nähe, hieß es aus Diplomatenkreisen. Unter „greifbarer Nähe“kann man in diesem Zusammenhang wohl eine Frist von einigen Tagen verstehen, denn zum 31. Dezember endet das deutsche Halbjahr, und die EU stünde bei einem Scheitern der Bemühungen ohne die dringend benötigten Fördermittel da.
Deshalb hatten Rat, EU-Kommission und Parlament erheblichen Druck auf die beiden Vetoländer Ungarn und Polen aufgebaut. Deren Regierungen stehen der erforderlichen Einstimmigkeit bei der Freigabe des Haushaltes und des Corona-Fonds im Wege. Dabei geht es ihnen nicht um diese Mittel, die sie selber dringend benötigen. Mit ihrer Blockade wollen sie die übrigen Länder zwingen, den vom EU-Parlament verschärften Rechtsstaatsmechanismus wieder aufzuweichen, der die Auszahlung von Mitteln unter einen Rechtsstaatsvorbehalt stellt.
Im Juli hatten sich zwar alle Länder, auch Ungarn und Polen, im Grundsatz auf einen solchen Mechanismus verständigt. Er war aber so vage formuliert, dass es wohl nie dazu gekommen wäre, EU-Mittel einzufrieren. Das EU-Parlament aber hatte seine Zustimmung zum Haushalt davon abhängig gemacht, dass die Prozedur mehr Biss bekommt. Die deutsche Ratspräsidentschaft als Verhandlungsführerin des Rates hatte diese Bedingung akzeptiert und zur allgemeinen Überraschung nicht auf weitere Verhandlungen hinter den Kulissen gesetzt, sondern darüber abstimmen lassen – mit dem wenig überraschenden Ergebnis, dass sämtliche EU-Länder den Mechanismus gutheißen, nur Ungarn und Polen nicht.
Da die qualifizierte Mehrheit genügt, war das neue Instrument beschlossen. In den vergangenen Tagen war mit Spannung erwartet worden, wer zuerst „blinzelt“– die beiden isolierten Osteuropäer oder die 25 anderen Regierungen. Einige von der Corona-Krise besonders gebeutelte Länder wie Italien brauchen nicht nur die Haushaltsmittel dringend, sondern auch die Hilfen aus dem Corona-Fonds.
Aus Ungarn kommen bis jetzt keine Signale, dass es sein Veto aufgeben will. Nicht ausgeschlossen ist, dass die deutsche Ratspräsidentschaft anbieten wird, die Rechtsstaatsprozeduren nach Artikel 7 der EU-Verträge gegen Ungarn und Polen zu stoppen, wenn im Tausch das ungarische Veto fällt. Kritiker warnen, dass ein solcher Schritt fatale Folgen haben könnte. Beide Regierungen würden dann ihren Weg in Richtung gelenkter Demokratie noch energischer fortsetzen als jetzt, wo das Thema wegen des Artikel-7Verfahrens regelmäßig bei der EUKommission und im Europaparlament auf der Tagesordnung steht.