Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
„These ist so überflüssig wie ein Kropf“
Virologe Professor Mertens über den Ursprung des Coronavirus und Mutationen
RAVENSBURG - Viren können sich durch Mutationen verändern. Was das für die Gefährlichkeit von SarsCoV-2 bedeutet, erklärt Virologe Professor Thomas Mertens im Gespräch mit Daniel Hadrys.
Ihr Kollege Alexander Kekulé vertritt die These, das Coronavirus sei zwar in China auf den Menschen übertragen, aber erst in Italien durch Mutationen so gefährlich geworden. Wie alt könnte SarsCoV-2 tatsächlich schon sein?
Die bereits seit Ende 2019 in China heftig anlaufende Sars-CoV-2-Pandemie hat mit dieser sogenannten G-Variante noch nichts zu tun. Diese „These“ist „so überflüssig wie ein Kropf“und entspringt dem offenbar unstillbaren Bedürfnis der Medien und leider auch einzelner Virologen, immer mal wieder etwas „Aufregendes“zu sagen, auch wenn es sich eigentlich um einen „alten Hut“handelt. Wir haben in dieser Rubrik bereits mehrfach (zum Beispiel am 2. September und am 17. Oktober) über diese sogenannte G-Variante (Mutante) gesprochen. Eine umfassende hervorragende Publikation erfolgte im August 2020 (Cell 182, 812-827). Diese Mutante ist in Europa Anfang 2020 an verschiedenen Orten aufgetreten – man weiß nicht genau, wo zuerst. Vor dem 1. März 2020 gehörten etwa zehn Prozent der damals 997 weltweit genau untersuchten (sequenzierten) SarsCoV-2-Viren zu dieser G-Variante. Mitte Mai waren es bereits 78 Prozent der dann weltweit genau untersuchten 12 194 Viren. Die G-Variante hat sich also sehr rasch weltweit durchgesetzt, möglicherweise weil sie sich noch stärker vermehrt und damit auch leichter übertragen wird. Diese Variante macht nicht schwerer krank als das ältere chinesische „Original-Virus“und wird auch durch die gleichen Antikörper neutralisiert.
Gibt es Faktoren, die eine Mutation begünstigen, oder geschieht dies zufällig?
Mutationen bei Viren sind zunächst immer zufällig, wobei allerdings die Wahrscheinlichkeit einer Mutation (Austausch von Einzelbausteinen der Virus-RNA) nicht gleichmäßig über das ganze Virusgenom verteilt ist. Wenn so spontan (zufällig) eine Mutante entsteht, die einen „Selektions-Vorteil“hat, weil sie sich stärker vermehrt oder besser übertragen wird, dann setzt sich diese Mutante (Variante) durch. Es gibt tatsächlich Situationen, wo gezielt auf entsprechende Mutanten selektioniert wird. Wenn man zum Beispiel ein Medikament anwendet, das die Virusvermehrung hemmt, dann kann es vorkommen, dass zufällig eine resistente Mutante auftritt. Diese wird nicht mehr durch das Medikament gehemmt, kann sich gut vermehren und auch übertragen werden. So etwas nennt man Selektionsdruck durch ein Medikament.
Könnte Sars-CoV-2 sich durch Mutationen dem Impfstoff entziehen – oder sogar noch gefährlicher werden?
Ähnliches wie bei Medikamenten kann unter Umständen auch im Hinblick auf Antikörper, die durch Impfung oder natürliche Infektion erworben wurden, erfolgen. Man nennt so etwas eine „Flucht-Mutante“vor der Immunität (engl.: Escape Mutante). Dies kommt aber bei den meisten Viren nicht oder nur sehr selten vor. Es können auch zufällig Mutanten entstehen, die neue krankmachende Eigenschaften besitzen. Das Virus hat kein „Interesse“daran, seinen Wirt rasch zu töten. Es „will“sich nur vermehren und übertragen werden. Man kann also auch sagen, dass es keinen Selektionsvorteil für das Virus in Richtung „größere Gefährlichkeit“gibt. Wahrscheinlicher sind eher Mutanten, die bei besserer Vermehrungsfähigkeit weniger krank machen.