Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Der FC Bayern und sein Wurzelproblem
Auch gegen Leipzig fingen sich die Münchener Gegentore – Nagelsmann überrascht
MÜNCHEN - Man hatte ein wahrhaftes Spitzenspiel der Bundesliga gesehen. Das 3:3 (2:2) zwischen Meister und Tabellenführer FC Bayern sowie Verfolger und Herausforderer RB Leipzig war von besonderem Format – mit allen Zutaten, die Bayern-Trainer Hansi Flick durchaus erfreut so beschrieb: „Sehr intensiv, mit viel Speed und vielen Torraumszenen. Ein sehr wildes Spitzenspiel.“Auch sein Widersacher, RB-Coach Julian Nagelsmann, meinte begeistert: „Ein sehr packendes Spiel, ich mag Spektakel.“Für Leipzigs Torschütze zum 3:2, Emil Forsberg, war es „geil, auf dem Platz stehen zu dürfen. Man lebt für solche Spiele.“Zuvor hatten Christopher Nkunku, Justin Kluivert für die Roten Bullen getroffen.
Wie sich die Trainer der Entertainer-Teams nach Abpfiff zum Happening mit dem jeweils kargen Ertrag von einem Pünktchen äußerten, verwunderte die Beobachter. Nagelsmann überraschte mit der Wertigkeit des Gastspiels in München. „Wir mussten ab der 60. Minute einige wichtige Spieler runternehmen, das hat uns geschmerzt. Wir haben den Dienstag immer im Hinterkopf gehabt, weil wir gerne ins Achtelfinale kommen würden“, erklärte der 33Jährige und verwies auf das letzte und entscheidende Gruppenspiel der Champions League gegen Manchester United. Setzte Nagelsmann also den Dreier bei Bayern und die damit verbundene Tabellenführung für das Ziel K.o.-Phase in der Königsklasse aufs Spiel? Dennoch freute sich Nagelsmann, dass „die Jungs schon wieder gut an ihre Grenzen gegangen sind“und betonte: „Dafür bekommen sie auch Lob. Wir jammern jetzt nicht rum und reden auch nicht so viel von Müdigkeit.“Seine Spieler nannte er „Maschinen“.
Und die Bayern, die „Triple-Maschinen“des Sommers? Sie waren mit dem zweiten Heim-Unentschieden hintereinander zufrieden. Sie hatten zwei Rückstände aufgeholt, kamen nach dem 0:1 und 2:3 zurück. Sie wackelten und wankten, aber sie gingen nicht k.o. „Wichtig war, dass wir das Spiel nicht verloren haben“, resümierte Flick. „Beide Abwehrreihen
waren nicht ganz auf 100 Prozent. Wir können mit dem 3:3 leben, nach dem Spielverlauf sind wir damit fein“, befand auch Torhüter Manuel Neuer, der jedoch monierte: „Wir kassieren zu viele Gegentreffer.“Und das „zu leicht“, so Flick. Zum vierten
Mal hintereinander ging der Abo-Meister der letzten acht Jahre in Rückstand – was dem Branchenprimus zuletzt im März 2010 widerfuhr. Noch ärgerlicher: In den letzten neun Pflichtspielen konnte Bayern nie die Null halten. Für solch eine Negativstatistik muss man bis 2006 zurückblicken. Satte 16 Gegentore nach zehn Spieltagen musste man zuletzt 2008/09 unter Trainer Jürgen Klinsmann hinnehmen, damals war man jedoch nur Tabellenvierter, erzielte lediglich 22 Treffer. Und damit zum Positiven: die 34 eigenen Tore. Der aktuell beste, weil konstanteste Flügelspieler im Kader, Kingsley Coman, bereitete alle drei Münchner Treffer vor. Die des 17-jährigen Jamal Musiala, der immer wertvoller wird, und des nimmermüden und ewig wertvollen Thomas Müller, der doppelt traf. Dreifach wertvoll für die Bayern, da Leroy Sané seine Startelf-Chance nicht nutzte und wie Toptorjäger Robert Lewandowski völlig untertauchte.
Trotz des spannenden, weil wilden Spektakels überwiegt bei den Münchnern der negative Trend in Punkto defensive Defizite. „Wir machen summa summarum zu viel Fehler“, befand Müller, und zeigte sich etwas ratlos: „Wir kommen aber momentan nicht so ran an die Wurzel. Aber die Einstellung ist gut – jeder
Julian Nagelsmann will. Daher sind wir mit dem Punkt nicht 100 Prozent zufrieden, aber in unserer Situation ist das schon okay. Am Ende können wir damit leben, müssen wir damit leben.“Hauptsache in der Tabelle oben geblieben. Für die verbleibenden drei Spieltage bis zur (arg kurzen) Weihnachtspause sollen die letzten Körner in der „Power-Saison“(O-Ton Neuer über die aufgrund der Corona-Pandemie komprimierte Spielzeit) mobilisiert werden. „Wir haben sicherlich auch ein paar Problemchen im Team. Der Kader ist etwas belastet, doch damit muss man klarkommen – und das tun wir“, meinte Müller, „das sieht man auch daran, dass wir immer wieder zurückkommen – so auch diesmal, und das zweimal.“
Unterm Strich bleibt die Frage: Geht Bayern mit seiner teils waghalsigen, weil zu offensiven Spielweise ein einkalkuliertes Risiko ein, das zu hoch ist? Bald wissen Flick und die Konkurrenz mehr.
„Wir haben den Dienstag immer im Hinterkopf gehabt.“