Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Saubere und sichere Kinderstube gesucht
Einfallsreiche Baumeister – Vögel konstruieren mit sehr unterschiedlichen Methoden geschützte Nester für ihren Nachwuchs
Aromatische Küchenkräuter sind in den Blumenkästen auf dem Balkon oder im Garten äußerst beliebt. Und das nicht nur beim Eigentümer der Pflanzen, sondern auch bei Blaumeisen, Staren und vielen anderen Vögeln. So mancher Sperling rupft mit seinem Schnabel ganze Zweige vom Thymian ab und schleppt diese Beute in sein mehr oder weniger sorgfältig unter der Dachkante errichtetes Nest. „Damit lassen sich Parasiten vertreiben, die sonst dem Nachwuchs zusetzen würden“, erklärt Bart Kempenaers vom Max-planckinstitut für Ornithologie im oberbayerischen Seewiesen. Entscheidend ist für die werdenden Eltern dabei nicht der angenehme Duft, sondern die abschreckende Wirkung auf Quälgeister: Statt Kräuter bauen Sperlingseltern in Mexiko auch Zigarettenstummel in ihr Nest ein. Darin steckt nämlich Nikotin, das Milben und andere Parasiten effektiv vertreibt.
Für den Einsatz einer solchen chemischen Keule haben die Vögel einen guten Grund: „Ihre junge Familie soll ein möglichst sicheres Zuhause haben“, sagt Bart Kempenaers. Das aber ist gerade für Vögel besonders wichtig. Während die Erwachsenen vor einem Feind meist davonfliegen, steckt der Nachwuchs zunächst einmal etliche Tage in seinem Ei fest. Noch dazu deponiert die Mutter zwischen den Eischalen alles, was der werdende Vogel für seine Entwicklung braucht. Genau dieser Vorrat aber ist natürlich auch bei anderen Lebewesen vom Eichhörnchen bis hin zu sehr vielen Menschen mit Appetit auf Eierspeisen hochbegehrt. Obendrein sind auch die Küken gefragte Leckerbissen, können aber bei vielen Arten erst nach etlichen Tagen oder sogar erst nach Monaten einem hungrigen Maul oder Schnabel entkommen.
Bis dahin müssen also die Eltern für den Schutz ihrer Nachkommen sorgen und ihnen ein möglichst sicheres Zuhause bieten. Die verschiedenen Wege zu einem solchen gemütlichen Nest untersuchen Bart Kempenaers und seine Mitarbeiter, wenn sie die Nester aller rund zehntausend Vogelarten vergleichen, die auf der Erde ihren Nachwuchs vor den lauernden Gefahren ihrer Umwelt schützen müssen. Dabei stoßen die Forscher auf recht unterschiedliche Methoden, die sich im Laufe der Evolution entwickelt haben.
Da gibt es zum Beispiel die Strandläufer, deren Ahnentafel sehr weit in die Vergangenheit zurückreicht. Diese Vögel brüten zwar im hohen Norden, mehrere Arten wie der Knutt und der Alpenstrandläufer rasten aber auf ihrem Weg nach Süden oder aus dem Süden ausgiebig in Mitteleuropa. „Alle Strandläufer geben sich mit einer Mulde zufrieden, in die sie ihre Eier legen“, nennt der Bart Kempenaers die wohl einfachste Form eines solchen Nestes.
Ähnlich halten es auch Küstenseeschwalben, die zwar ebenfalls im Norden zu Hause sind, von denen aber einige Paare auch an den deutschen Küsten von Nord- und Ostsee brüten. Ihre braun gesprenkelten Eier sind zwar hervorragend getarnt, und die Vogeleltern wählen auch gern abgelegene Orte, um dort mit ihrem Körper eine Mulde in den Boden zu drücken, die häufig schon das fertige Nest ist. Hungrige Füchse oder streunende Katzen finden die Brutkolonien der Vögel aber trotzdem oft genug. Und stoßen auf eine erbitterte und todesmutige Gegenwehr der Eltern: Küstenseeschwalben erbeuten ihre Nahrung im Sturzflug aus dem Meer und wenden diese Technik auch gegen Eindringlinge an. Zwar haben die Vögel von der Größe einer Amsel keine realistische Chance gegen einen Menschen oder gar einen Eisbären. Aber sie können dem Eindringling mit ihren Krallen im Sturzflug schmerzhafte Wunden zufügen und zielen dabei auch noch gern auf die Augen. Vor einer solchen aggressiven und gefährlichen Verteidigung aber scheuen selbst größere Raubvögel und sogar Eisbären zurück.
Im Laufe der Jahrmillionen hat die Evolution dann raffiniertere Methoden für den Schutz des Vogelnachwuchses entwickelt. „Das gilt vor allem für die Singvögel, die vermutlich vor rund 33 Millionen Jahren in Australien entstanden und die sich von dort in den Rest der Welt verbreitet haben“, erklärt Bart Kempenaers. Dabei teilten sich die Singvögel in verschiedene Gruppen auf, heute stellen sie mit rund 5000 Arten etwa die Hälfte aller Vögel. Und fast alle dieser Arten geben sich viel mehr Mühe als Strandläufer oder Küstenseeschwalben und errichten richtige Nester. Diese erfüllen vor allem zwei Funktionen: „Sie schützen die Eier und möglichst auch den brütenden Vogel, und sie sorgen zusammen mit der Körperwärme der Eltern für die angenehme Wärme, in der die Eier sich entwickeln“, erklärt Kempenaers.
Der Baustil aber unterscheidet sich zwischen den verschieden Vogelgruppen oft enorm. Die kleinen Zaunkönige bauen gleich mehrere Nester zum Beispiel im Gebüsch, unter den Wurzeln umgestürzter Bäume oder unter einem ausgespülten und überhängenden Bachufer, aber auch in alten Mauern und im Gebälk von Dächern. Aus feuchten kleinen Ästen, Moos, Farnen und Blättern konstruieren die Männchen dort ihre kugelförmigen oder ovalen Nester mit seitlichem Eingang und einem weichen, gepolsterten Innenraum, in dem Eier, Küken und brütende Vögel vor den Augen von Katzen und anderen Räubern gut geschützt sind.
Recht ähnlich bauen auch die Männchen der Beutelmeise aus Spinnweben und Pflanzenfasern ein beutelförmiges Nest, das etwa 17 Zentimeter hoch und elf Zentimeter breit ist. Dieses architektonische Meisterwerk hängt an biegsamen Zweigen und hat einen seitlichen Eingang, der zum flauschigen Nest im Innern führt. Die Weibchen wählen das ihnen am besten erscheinende Nest aus und übernehmen dann den Innenausbau. „Besonders die Arten, deren Nachwuchs nach dem Schlüpfen als Nesthocker längere
Zeit in ihrem Zuhause bleiben, sind auf solche Nester angewiesen, die sie vor den Blicken hungriger Räuber verbergen“, erklärt Bart Kempenaers diese Strategie. Neben so aufwändigen Bauten wie bei Beutelmeisen und Zaunkönigen gibt es noch einige weitere Möglichkeiten für ein schützendes Dach über den Köpfen des Nachwuchses. Spechte hämmern sich zum Beispiel Höhlen in das Holz von Baumstämmen. Und da sich diese Vögel immer wieder neue Nester zimmern, finden sich für die leerstehenden Altbauten meist sehr rasch Nachmieter in Form weniger begabter Baumeister.
„Meisen wählen dabei aus gutem Grund eine Höhle mit möglichst schmalem Zugang“, erinnert sich Bart Kempenaers an seine Masterarbeit zu diesem Thema. Je enger der Zugang, umso schwieriger wird es für die Pfote eines Marders oder eines Eichhörnchens, die Eier oder Küken aus dem Nest zu holen. Heutzutage handelt es sich bei dieser Bruthöhle häufig um ein Vogelhäuschen, in das die Meisen auch in der nächsten Saison gern zurückkehren. Aber nur, wenn vorher ein Mensch ihr altes Nest entfernt hat, in dem sich während der Brut leicht Parasiten ansammeln.
Solche Baumhöhlen sind ja ohnehin nicht allzu dicht gesät und die Aussichten auf ein solches Zuhause sind oft ähnlich schlecht wie die Chancen auf eine gute Mietwohnung in bester Lage einer boomenden Großstadt. Mehlschwalben bauen sich ihr Zuhause daher lieber selber, indem sie Schlamm mit ihrem Speichel anreichern, der beim Aushärten das Ganze ähnlich wie Mörtel zusammenhält. Ist der erste Baustein trocken und fest, wird der nächste Schlamm geholt und mit Mörtel angefügt. Bis schließlich ein kleines Lehmhaus entstanden ist, in dem der Nachwuchs sicher aufwachsen kann.
Die Kunst des Nestbaus erben die Vögel zwar von ihren Eltern, verbessern oft aber ihre Fähigkeiten von Jahr zu Jahr weiter. „Allerdings bauen sie später in der Saison manchmal auch schlechtere Nester, vermutlich weil die Zeit dann schon drängt“, berichtet Bart Kempenaers. Überhaupt gibt es in den hand- oder besser schnabelwerklichen Fähigkeiten zwischen den Vögeln oft enorme Unterschiede – und die Weibchen haben gute Gründe sich das Nest genau anzuschauen, bevor sie ihren Zukünftigen auswählen.
Vor allem große Vögel wie Störche, Bussarde und Adler, die ihre Brut gut gegen Krähen und andere Nesträuber verteidigen können, setzen dagegen jedes Jahr auf das altbewährte Zuhause. Das bauen sie in jedem Jahr weiter aus, um seine Stabilität zu stärken. Dadurch wächst der Bau weiter und so mancher Storch zieht seinen Nachwuchs dann in einem vier Meter hohen Nest auf, das zwei Meter Durchmesser hat und bis zu zwei Tonnen wiegt. In Florida saß der Nachwuchs eines Weißkopfseeadler-paares in einem Baum sogar auf einem sechs Meter hohen Nest, das mit nicht ganz drei Tonnen schwerer war als mancher SUV.