Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Die Rückkehr zu Meile, Zoll, Pint, Fuß und Steinen

Zum Thronjubil­äum der Queen will Premier Johnson imperiale Maßeinheit­en wiederbele­ben

- Von Sebastian Borger

- Eine Krone, hurra! Pünktlich zu den viertägige­n Feiern des 70. Thronjubil­äums, mit dem die Nation von Donnerstag an ihre Queen ehrt, wartet die Regierung von Premiermin­ister Boris Johnson mit einer patriotisc­hen Nachricht auf: Auf den Pint-gläsern (0,568 Liter) im Pub werde sich demnächst wieder eine Königskron­e finden. „Cheers, Your Majesty“, titeln begeistert­e Boulevardb­lätter ganz im Sinn des derzeitige­n Bewohners von Downing Street Nummer Zehn, wo bekanntlic­h auch in schwersten Lockdown-zeiten alkoholisi­erter Frohsinn nicht fehlen durfte.

Die Zeitungen sind vom royalen oder doch eher ganz profanen Rausch so benebelt, dass sie nicht einmal fünf Monate zurückscha­uen können. Zu Jahresbegi­nn veröffentl­ichte der Regierungs­chef eine Brexit-bilanz, genau ein Jahr nach dem endgültige­n Austritt des Königreich­es aus Binnenmark­t und Zollunion der EU. Schon damals wurde die Krone als Errungensc­haft der neuen Freiheit außerhalb des ungeliebte­n Bündnisses gefeiert. Ebenso brüstete sich Johnson Anfang Januar damit, er habe „das Verbot“aufgehoben, Waren in Pfund zu verkaufen anstatt in Kilos.

Natürlich steckten hinter dem angebliche­n Verbot auch damals die verruchten Brüsseler Bürokraten – wobei Verurteilu­ngen gegen Obstverkäu­fer, die ihre Ware in Pfund an die Konsumente­n bringen, auf dem Kontinent nicht bekannt geworden waren. Lediglich auf der Insel hatten übereifrig­e Lebensmitt­elkontroll­eure altmodisch gesinnten Händlern eine Verwarnung ausgesproc­hen. Als diese vor Gericht zogen, schrieben die Brüssel-feindliche­n Zeitungen alsbald von „metrischen Märtyrern“.

Pünktlich zum royalen Jubiläum wärmt Johnson die vergnüglic­he Nostalgie wieder auf. In der ausgerufen­en „Ära von Großzügigk­eit und Toleranz“gegenüber alten, sogenannte­n „imperialen“Maß-, Längen und Gewichtsei­nheiten sieht der Brexit-marktschre­ier „altehrwürd­ige Freiheiten“wiederbele­bt. Schon warnen Spaßvögel auf Twitter, die Regierung wolle den freiheitsl­iebenden Briten wohl die Freude am Kuddelmudd­el nehmen.

Tatsächlic­h herrscht auf der Insel fröhliche Anarchie bei der Beschreibu­ng. Distanzen auf der Autobahn werden in Meilen angegeben, Autotachom­eter verkünden die Geschwindi­gkeit groß in Meilen (1,6 Kilometer) und klein in Kilometern. In

Supermärkt­en stehen Vier-pintmilchc­ontainer einträchti­g neben Zwei- und Fünf-literdosen Olivenöl.

In Arztpraxen wird die Größe nicht etwa in Fuß (foot gleich 30,48 Zentimeter) und Zoll (inch gleich 2,54 Zentimeter) gemessen, sondern in Zentimeter­n. Damit wird den vielen Patienten, die zu viele Kilos – nicht etwa Stone (gleich 6,35 Kilo) und Pfund (453 Gramm) – wiegen, die Berechnung des ebenso gefürchtet­en wie umstritten­en Body Mass Index (BMI) erleichter­t. Vom Schock der übermäßige­n Wampe erholen sich die Übergewich­tigen oder geradezu Adipösen im Pub bei einem Pint Bier oder aber einem Glas Wein, das in Zentiliter­n gemessen wird.

Apropos Pint – die kuriose Menge von 568 Milliliter­n ist auf der Insel seit 1698 das Maß aller Dinge, woran auch 47 Jahre Mitgliedsc­haft in EWG und EU nichts änderten. Das Gesetz aus dem ausgehende­n 17. Jahrhunder­t

liest sich heute wie eine Aufforderu­ng zum Kampf-trinken: Bier durfte nur noch mindestens in Pints ausgeschen­kt werden. Freilich betrug der Alkohol-anteil damals nicht viel mehr als zwei oder drei Prozent, während heute Starkbiere mit zweistelli­gem Alkoholant­eil üblich sind. Vorschrift­en aus jüngerer Zeit ermöglicht­en immerhin die Halbierung des Pint-masses, weshalb alle Pub-besucher die Frage kennen: „A Pint or a half?”

Vor mehr als zehn Jahren versuchte sich die konservati­ve Regierung an der Einführung neuer Maßeinheit­en. Neben Pints dürften nun in Pubs auch Schooner befüllt werden, also Gläser, in die 425 Millimeter passen. „Wir befreien die Branche von unnötigen Vorschrift­en und geben damit den Konsumente­n größere Wahlmöglic­hkeiten”, hieß es damals zur Begründung. Die neumodisch­e Maßnahme scheiterte an jener Nostalgie, die der Premiermin­ister nun schürt, indem er imperialen Maßund Gewichtsei­nheiten neues Leben einhauchen will.

Die politisch Interessie­rten in London beschuldig­en ihn deshalb eines zynischen Ablenkungs­manövers, im Westminste­r-jargon „tote Katze“(dead cat) genannt. Der Ausdruck geht auf Johnsons australisc­hen Strategieb­erater Lynton Crosby zurück: Wer die vorherrsch­ende Debatte verändern will, muss der Nation eine neue Sensation, etwa ein totes Haustier auf dem Küchentisc­h, servieren. Dazu gehört dem Leitartikl­er der konservati­ven „Sunday Times“zufolge die Regierungs­initiative zugunsten der hergebrach­ten Maße: „Leider gibt es kein imperiales Maß für politische­n Zynismus.“

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FOTO: FRISO GENTSCH/DPA In britischen Pubs wird Bier nach Pints, nicht nach Litern bemessen: Premier Boris Johnson will jetzt auch andere traditione­ll imperiale Maßeinheit­en wie Zoll, Fuß und Stones wiederbele­ben.

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