Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
„Operationen sind so alt wie die Menschheit“
Medizinhistoriker Michael Sachs über die Geschichte der Chirurgie und den aktuellen Stand
- Der Begriff Chirurgie kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet „Arbeiten mit der Hand“. Es geht es um die operative Behandlung von Krankheiten und Verletzungen. Die minimalinvasive Chirurgie spielt dabei eine wichtige Rolle. Professor Michael Sachs (Foto: privat) ist Chirurg und Medizinhistoriker und derzeit als kommissarischer Leiter des Instituts für Geschichte und Ethik der Medizin am Universitätsklinikum in Frankfurt am Main tätig. Er ist außerdem Autor eines fünfbändigen Werkes über die Geschichte der Chirurgie. Hildegard Nagler hat den 62jährigen Arzt interviewt.
Auf welche Zeit wird die erste Operation datiert?
Operationen im Sinne von Wundversorgungen sind so alt wie die Menschheit. Dass man beispielsweise nach Kopfverletzungen beim Auftreten von starken Kopfschmerzen oder Bewusstlosigkeit Löcher durch den Schädelknochen bohrt, hat es nachweislich schon im Altertum gegeben. Spezielle Instrumente dazu fand man in römischen Gräbern von Chirurgen. Außerdem wurden schon in der griechischen Antike beispielsweise Steine operativ aus der Harnblase entfernt.
Wie muss man sich in alten Zeiten Operationen vorstellen?
Die Operationen wurden im Hause des Patienten oder des Chirurgen durchgeführt. Von der Existenz von Mikroorganismen als Ursache von Wundeiterungen war noch bis in das 19. Jahrhundert hinein nichts bekannt, daher gab es auch keine Händedesinfektion und keine Sterilisation von Instrumenten. Alle Operationswunden eiterten daher, das galt bis in das 19. Jahrhundert hinein als Zeichen einer normalen Wundheilung. Die Patienten wurden auf ein Brett festgebunden, damit sie sich während des schmerzhaften Eingriffs nicht bewegen konnten. Als Schmerzmittel wurden zwar beispielsweise Opium oder Alkohol verwendet. Diese Substanzen waren aber nicht stark genug, um die bei einer Operation auftretenden Schmerzen ausreichend zu bekämpfen.
Auf wann schätzen Sie die Anfänge der minimalinvasiven Chirurgie? Die minimalinvasive Chirurgie (MIC) entwickelte sich erst Ende des vergangenen Jahrhunderts aus bereits vorhandenen endoskopischen Verfahren (Magenspiegelung, Blasenspieglung). Der Internist Heinz Kalk führte schon seit den 1920erjahren Spiegelungen der Bauchhöhle mit einem speziellen Fernrohr (Endoskop) durch, das er durch einen kleinen Schnitt in der Bauchdecke einführte. Dabei konnte er die Organe der Bauchhöhle betrachten und beurteilen und auch gezielt Gewebeproben, zum Beispiel aus der Leber, entnehmen. 1980 wurde die erste operative Entfernung des Blinddarms auf diesem Wege durchgeführt, zum Entsetzen der Chirurgen von einem Gynäkologen, Kurt
Semm. 1985 wurde erstmals durch den Chirurgen Erich Mühe eine Gallenblase minimalinvasiv entfernt. Seitdem wurde das dazu notwendige Instrumentarium ständig weiterentwickelt, sodass heute fast alle Eingriffe im Bauchraum auch auf diesem Wege durchgeführt werden können.
Wie würden Sie die minimalinvasive Chirurgie im Hinblick auf die Geschichte der Chirurgie gewichten?
Die minimalinvasive Chirurgie ist aus den eben aufgeführten Gründen ein großer Fortschritt in der Entwicklung der Chirurgie. Dies war nur möglich durch die Entwicklung neuer Instrumente und optischer Systeme von spezialisierten Firmen. Die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von operationsbedingten Komplikationen ist aber meist nicht geringer im Vergleich zu den herkömmlichen offenen Verfahren. Zudem dauert das Erlernen dieser endoskopischen Verfahren während der Weiterbildung eines Arztes zum Chirurgen meist länger.
Sie haben auch bei indigenen Völkern recherchiert. Wie gehen diese mit Krankheiten um, die bei uns operiert werden?
Die Behandlung von Krankheiten richtet sich nach den Vorstellungen über die Ursachen der Erkrankungen. Bei zahlreichen indigenen Völkern herrscht heute noch die Vorstellung, dass Krankheiten durch „black magic“von bösen Menschen oder Dämonen hervorgerufen werden. Also besteht die Behandlung zunächst in einer Kontaktaufnahme des traditionellen Heilers mit diesen Dämonen, meist im Trancezustand, um zu erfahren, warum diese den Patienten krank gemacht haben. Dann entscheidet der Heiler, ob die Darreichung von Opfergaben ausreichend ist oder er den Krankheitsauslöser (eine Art Giftpfeil) aus dem Körper mit dem Mund aussaugen muss. Operationen in unserem Sinne werden bei indigenen Völkern nicht durchgeführt, weil dazu erst eine Krankheitsvorstellung entwickelt worden sein muss, die Krankheiten in bestimmten Organen zuordnet, zum Beispiel im Blinddarm. Dies begann in unserem Kulturkreis übrigens erst seit dem 17. Jahrhundert und dauerte über zwei Jahrhunderte, bis ältere Krankheitsvorstellungen wie zum Beispiel Säftelehre und Humoralpathologie verdrängt wurden.
Wie sehen Sie die Zukunft der minimalinvasiven Chirurgie?
Die technische Entwicklung wird weitergehen, und immer mehr Operationen werden mit dieser Methode durchgeführt werden können. Die technische Entwicklung ist aber nur eine Seite der Medaille. Durch Weiterentwicklung der immunologischen, chemotherapeutischen und gentherapeutischen Verfahren werden in der Zukunft wahrscheinlich verschiedene Operationen gar nicht mehr notwendig sein, sondern die entsprechenden Erkrankungen werden ohne zu schneiden behandelt werden können.
Roboter wirken bei Operationen bereits mit. Werden eines Tages ausschließlich Roboter operieren? Bestimmte Operationsschritte können bereits heute und werden künftig zunehmend von Robotern übernommen werden können. Der Roboter wird aber dabei keineswegs den Arzt beziehungsweise den Chirurgen ersetzen. Dieser ist weiterhin notwendig zur Klärung der Operationsindikation, das heißt, ob eine Operation überhaupt notwendig ist und welches der infrage kommenden Operationsverfahren bei dem einzelnen Patienten in dessen Alter und Zustand eingesetzt werden kann beziehungsweise sollte. Die Ausführung einer Operation ist ein erlernbares Handwerk, die Stellung der Indikation und die Auswahl des Operationsverfahrens aber eine ärztliche Kunst!