Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Im Mehrfach-krisenmodus
Verunsicherung der Industrie prägt Hannover-messe
(dpa) - Wenn nicht jetzt, wann dann? Die großen Themen der Hannover Messe 2022 – Klimaschutz, Energieeffizienz, Digitalisierung – waren auch dem Bundeskanzler lange bekannt. Dass in diesem Jahr aber gleich mehrere aktuelle Krisen einschließlich eines Krieges in Europa auf dem wichtigsten Industrietreffen mit verarbeitet werden müssen, hätten sich vor einigen Monaten selbst die Veranstalter nicht vorstellen können. Olaf Scholz betonte: Der Wandel muss rasch kommen. „Die Pandemie und der Krieg nehmen der industriellen Transformation nichts von ihrer Dringlichkeit“, sagte er zum Auftakt.
Die Vision umriss der Spd-politiker so: Die Industrie soll weniger Ressourcen verbrauchen, weniger Kohlendioxid produzieren, digitaler werden sowie Künstliche Intelligenz und Wasserstoff nutzen. Und es sei gut zu sehen, „dass wir mit dieser großen Geschwindigkeit es auch schaffen werden, in ganz kurzer Zeit Co2-neutral zu wirtschaften“, sagte Scholz. Deutschlands Wirtschaft auf dem Weg zur Klimaneutralität – darüber hinaus hielt sich der Kanzler auf seinem Messerundgang mit wirtschaftlichen Einschätzungen merklich zurück.
An etlichen Ständen ist ein gewisses Unbehagen zu spüren, fast schon etwas schizophren mutet die Stimmung teils an. Einerseits dürften die weltwirtschaftlichen Folgen des Kriegs in der Ukraine – darunter vor allem drastisch verteuerte Energie – den Umstieg von Gas und Öl auf erneuerbare Quellen beschleunigen und so das Geschäft zahlreicher Anbieter begünstigen. Demgegenüber steht allerdings die Befürchtung, zumindest mittelfristig noch eine Weile auf die fossile Rohstoffgroßmacht Russland angewiesen zu sein.
Ist es also echte Zuversicht oder doch eher Zweckoptimismus, der hier zu hören ist? Viele Aussteller geben sich relativ gut gelaunt. Bei Festo etwa, einem baden-württembergischen Hersteller für Automatisierungstechnik, sind sie zuversichtlich, schon nächstes Jahr an allen 250 Standorten weltweit Co2-neutral zu arbeiten. Am Messestand des Unternehmens testete Scholz die Beweglichkeit eines Roboters mit pneumatischem Antrieb und lenkte den Roboterarm sanft in verschiedene Richtungen.
Von heute auf morgen jedoch lässt sich besonders die Abhängigkeit vom Gas keineswegs auf null herunterfahren. In der Chemie und auch im Maschinenbau sind diverse Materialien ohne Methan, Ethan und weitere Erdgasbestandteile nicht möglich – auch wenn Alternativmethoden allmählich Raum gewinnen. Und das überwiegend meiste Gas kommt eben vorerst immer noch aus Russland, wenngleich mittlerweile weniger als vor ein paar Monaten. Terminals für verflüssigtes Erdgas (LNG) sind frühestens zum Jahreswechsel bereit.
Die Industriebosse selbst wollten sich, den aktuellen Herausforderungen zum Trotz, nicht allzu vergrämt zeigen. Sie wiesen in Hannover aber auf die gestiegenen Risiken für die globale Konjunktur hin. Die rasante Inflation – mitverursacht durch den Kriegsbeginn – hat die Erzeugerpreise mancherorts schon auf mittlere zweistellige Steigerungsraten anschwellen lassen. Verbraucher von Endprodukten müssen ebenfalls zusehen, wie sie mit der für europäische Verhältnisse sehr hohen Teuerung klarkommen.