Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)
Mord ohne Mörder
Vor zehn Jahren wurde Lilly Bauer aus Pfullendorf Opfer eines Gewaltverbrechens. Trotz Verdächtigungen und Gerichtsprozesses fehlt vom Täter jede Spur. Ihren Bruder quält die Ungewissheit bis heute.
PFULLENDORF - Manchmal kommt es Adolf Zentner vor, als hätten dieser Alptraum, die grausamen Eindrücke und aufwühlenden Gedanken erst gestern ihren Anfang genommen. Dabei ist es nun schon zehn Jahre her, dass er zusammen mit seinem Schwager an der Sportanlage in Pfullendorf auf die Suche nach seiner Schwester Lilly Bauer ging. Anfangs unbedarft und vor allem nicht ahnend, dass sein Leben und auch das seines Schwagers von diesen Stunden an ein anderes sein würde. „Da oben ist sie langgelaufen“, sagt der 78-Jährige bei einem Treffen und zeigt auf eine Anhöhe neben dem Stadion, die nach wenigen Metern in einen Wald übergeht. Auch die beiden Männer sind damals den Hügel rauf und dann der bei Joggern so beliebten Strecke gefolgt. Bis der Schwager plötzlich auf die Leiche seiner Frau stieß. „Diese Bilder kriege ich nicht mehr aus dem Kopf “, sagt Zentner. Genauso wenig wie ihn die Frage nach dem Mörder seiner Schwester loslässt.
Der Fall Lilly Bauer hat landesweit die Menschen beschäftigt und die Kleinstadt Pfullendorf in Aufregung und Verunsicherung gestürzt. Am 15. Juli 2012 lauert ihr der Täter im Waldgebiet Fuchshalde auf, tötet die 64-Jährige brachial, mit zwölf Messerstichen in den Nacken und mehreren Schlägen mit einem harten Gegenstand ins Gesicht. Die Soko „Stadion“nimmt schnell den Ehemann des Opfers ins Visier, der schließlich des Mordes angeklagt wird und vor Gericht muss – wo er von Adolf Zentner schwer belastet wird. Der damals als Zeuge aussagt: „Ich bin zu hundert Prozent überzeugt, dass er es war. Das ist so sicher wie das Amen in der Kirche.“An Beweisen für diese Anschuldigung fehlt es allerdings völlig. Was dem Bruder bis heute keine Ruhe lässt und ihn bis in sein Innerstes quält. „Ich werde mit der Sache einfach nicht fertig.“
Zentner war fast 40 Jahre lang in Pfullendorf Versicherungskaufmann, er kennt die Leute und die Leute kennen ihn, sprechen ihn auch nach so vielen Jahren noch immer auf seine Schwester an. Mit ihrem Ehemann lebte Lilly nur wenige Hundert Meter von ihm entfernt, man traf sich oft und unterstützte sich gegenseitig im Alltag. „Auch mein Schwager war immer hilfsbereit, ich habe nie ein Problem mit ihm gehabt.“Nur in den letzten Wochen vor der Tat habe dieser sich verändert, behauptet Zentner, er sei bisweilen aggressiv aufgetreten, unfreundlich und pampig gewesen, auch zu seiner Frau. Die Ehe, so sein Eindruck, war in einer schweren Krise. „Da war Druck im Kessel.“
Am 15. Juli 2012 gegen 14.30 Uhr erhält Zentner einen Anruf von seinem Schwager, dieser mache sich Sorgen um seine Ehefrau, die gegen 9.30 Uhr das Haus zum Joggen verlassen hatte, aber noch immer nicht zurück war. Er hätte sie bereits mit dem Fahrrad in der Fuchshalde gesucht und sich auch am Schalter des Pfullendorfer Krankenhauses vergeblich nach ihr erkundigt. „Sein Anruf hat mich irritiert“, sagt Zentner, „weil Lilly immer gern mit Freundinnen sitzen geblieben ist, um noch einen Kaffee oder einen Sekt zu trinken.“Trotzdem schlägt er vor, mit dem Auto zum Stadion zu fahren, um alleine nach ihr zu suchen. „Mein Schwager bat mich aber, auf ihn zu warten, weil er noch duschen wollte.“Also fahren die beiden Männer gemeinsam zum Parkplatz vor dem Stadion-restaurant, wo noch das Auto von Lilly Bauer steht. Zu zweit gehen sie die Joggingstrecke ab, bis sie zu einer Spitzkehre kommen und sich trennen. Als Zentner gerade in einer mit Büschen zugewachsenen Steingrotte nachschauen will, hört er plötzlich die Stimme des Schwagers: „Adolf, ich hab’ sie!“
Der Stimme folgend erreicht Zentner hastig einen Abhang, vor dem er stehen bleibt. Von dort oben sieht er seine leblose Schwester auf dem Bauch liegend und seinen Schwager kniend neben ihr. „Ich habe sofort den Notarzt alarmiert.“Der aber nur noch ihren Tod feststellen kann. Als auch Polizei und Spurensicherung eintreffen, habe der Schwager plötzlich rumgeschrien, „die Hände voller Blut, weil er überall rangelangt hat“. Später vor Gericht wird Zentner über diesen Gefühlsausbruch
sagen: „So ein Theater habe ich schon lange nicht mehr erlebt. Ich kann unterscheiden zwischen echt und gespielt.“Für ihn steht fest, wer der Mörder seiner Schwester sein muss.
Mit Hundertschaften durchkämmt die Polizei in den Tagen nach der Tat Wald und Umgebung, befragt rund 700 Leute, lässt sogar das Wasser des Stadtsees ab, in der Hoffnung, dort die Tatwaffe zu entdecken, was sich in Schlamm und Morast als Trugschluss erweist. Zentner ermittelt unterdessen auf eigene Faust, bringt einen Hammer mit gelbschwarzem Griff als Tatwaffe ins Spiel, den er bei dem Schwager gesehen haben will. Die Spur verläuft sich jedoch ins Leere, wie so vieles andere auch. Der Schwager wird trotzdem angeklagt. Weil er kein Alibi hat. Weil er widersprüchliche Angaben macht über das Auffinden der Leiche. Weil Beziehungstaten eher die Regel sind als die Ausnahme. Vor Gericht fällt die Anklage jedoch krachend in sich zusammen. Ein Fasergutachten offenbart sich als methodisch schwach, die Ermittlungen als lückenhaft und die Aussagen Zentners als Empfindungen ohne Fakten: „Er beharrt in seiner subjektiven Sichtweise, dass sein Schwager seine Schwester umgebracht hat“, sagt der Richter. Und die Staatsanwältin erklärt: „Die Indizien wurden nicht bekräftigt, sondern während des Prozesses erheblich abgeschwächt.“Der Freispruch nach nur fünf von elf angesetzten Verhandlungstagen ist somit ohne Alternative.
Die Freiheit ist in diesem Zusammenhang allerdings nur von relativem Gehalt. Denn der Schwager wird nach dem Prozess seines Lebens nicht mehr glücklich. Auf der Straße schneiden ihn die Leute und gehen grußlos an ihm vorbei. Am Geldautomaten in der Sparkasse soll ihn jemand als Mörder beschimpft haben. Seelisch angeschlagen und gesellschaftlich isoliert, zieht er aus Pfullendorf weg. „Er wurde angefeindet, das war nicht mehr erträglich für ihn“, sagt sein damaliger Anwalt Wolfgang Burkhardt, der vergeblich versucht hat, für die „Schwäbische Zeitung“einen Kontakt zu seinem früheren Mandanten herzustellen. Der Mordvorwurf und der Prozess hätten den Ehemann sehr mitgenommen, erklärt Burkhardt. „Viel schlimmer kann es für jemanden nicht kommen.“ Die damaligen Anschuldigungen Zentners bezeichnet er als „völlig aus der Luft gegriffen“und als „Frechheit“. „Dass der Verdacht aufkommt, liegt zwar nahe. Es sind ja fast immer Beziehungstaten“, sagt der Jurist. Hier liege jedoch ein Freispruch erster Klasse vor. Und somit noch immer ein Mord ohne Mörder.
Ungeklärte Fälle dieser Art gibt es viele, rund 500 zählt das Landeskriminalamt (LKA) Baden-württemberg, das vor drei Jahren den Bereich „Cold Cases“eingerichtet hat. Dabei nehmen die Kripobeamten DNA, Fasern oder Pollen aus vergangenen Fällen mit moderner Technik unter die Lupe, bewerten Zeugenaussagen neu oder stellen die damalige Tatthese infrage. Was immer wieder zu spektakulären Erfolgen führt, wie bei Brigitta J., die 1995 in Sindelfingen auf offener Straße erstochen wird. 25 Jahre später kann per Dna-technik ihr Mörder überführt und verurteilt werden. Noch länger liegt der Fall eines ehemaligen US-SOL- daten zurück, der 1985 in einem Göp- pinger Park eine Frau überfällt. Das Opfer erleidet Rippenbrüche, einen Riss des Trommelfells, Würgemale, eine Platzwunde am Kopf und Schürfungen am gesamten Körper. 37 Jahre später wird der Peiniger ausgeliefert und wegen versuchten Mordes verurteilt.
Nach wie vor ungeklärt ist dagegen das Verbrechen an der damals 13jährigen Schülerin Zeljka I., sie wird 1978 in der Badewanne der elterlichen Wohnung in Villingen-schwenningen tot aufgefunden, einen Unfall konnten die Ermittler ausschließen, einen Täter aber nicht ermitteln. Oder der Fall Christine P., die 19-Jährige verlässt im Januar 1986 ihren Arbeitsplatz in einem Mosbacher Modegeschäft, gegen 18 Uhr steigt sie in ihr Auto, um zu einer Verabredung zu fahren. Dort kommt sie nie an, ihre Leiche wird in einem Waldstück bei Gundelsheim im Kreis Heilbronn gefunden. Ihr Mörder bleibt bis heute unentdeckt. Axel Mögelin, inzwischen Vizepräsident beim Präsidium Technik, Logistik, Service der Polizei
Baden-württemberg, sagte vergangenes Jahr über die Cold-cases-ermittlungen: „Ungeklärte Mordfälle sind für die Angehörigen eine fortlaufende Belastung. Ihnen fühlen wir uns besonders verpflichtet.“
Auf Adolf Zentner wirkt diese Last manchmal erdrückend, sie begleitet sein Leben und das nun schon seit zehn Jahren. Im Gespräch wirkt der Versicherungskaufmann ruhig und sachlich, allein wenn der Name Lilly fällt, stockt kurz die Stimme, muss er sich für einen Moment sammeln. „Sie war ein sehr freundlicher Mensch, offen und umgänglich.“Die Geschwister waren eng miteinander verbunden, die Ungewissheit über das Schicksal seiner Schwester lässt den Bruder nicht los. „Mir geht es schon gar nicht mehr darum, jemanden zu bestrafen“, sagt er, „ich will nur wissen, wer es war und warum er ihr so etwas angetan hat.“Über die Jahre hat er sich daher in Kriminalfälle eingelesen, sich mit Forensik beschäftigt, auch eine Belohnung für Hinweise ausgelobt und „Aktenzeichen XY“kontaktiert, die Sendung wollte den Fall aber nicht aufgreifen. Zentner weiß selbst, dass seine Mutmaßungen zu dem Verbrechen auf Instinkt beruhen, auf Beobachtungen und sein Bauchgefühl. „Die Kiste ist verfahren, es fehlt ein Beweis“, vielleicht auch eine Zeugenaussage oder das Tatwerkzeug, um irgendwie weiterzukommen.
So aber sind ihm die schmerzhaften Gefühle immer präsent, über die er beinahe täglich mit seiner Lebensgefährtin spricht. Mit denen er am Abend ins Bett geht, in dem verzweifelten Wunsch, dass der Fall am nächsten Morgen vielleicht eine Wende nimmt. „Aber es passiert nichts.“In seiner Unruhe ruft er manchmal beim Landeskriminalamt an, weiß längst, bei welchem Beamten die Akte Lilly Bauer liegt. „Ein freundlicher Mann“, sagt Zentner, verständnisvoll und offen, der ihm aber auch nur wenig Hoffnungsvolles sagen kann. Außer, dass Mord niemals verjährt.