Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Folgen der Flucht bringen auch Helfer ans Limit

Ravensburg­er Gastfamili­e berichtet von psychische­n Problemen – Arzt warnt vor schnellen Diagnosen

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(len) - Im März wurden erste Geflüchtet­e aus der Ukraine in Ravensburg aufgenomme­n, Gastfamili­en räumten Zimmer frei, die Hilfsberei­tschaft ist seither riesig. Doch mancher Gastgeber stößt inzwischen an Grenzen: Eine Ravensburg­er Familie hat miterlebt, wie sich die junge Ukrainerin, die sie aufgenomme­n hatten, in ihrem Zimmer verkroch, weinte, keine Hilfe mehr annehmen wollte und weitere psychische Auffälligk­eiten zeigte. Auch die Ravensburg­er Hilfsorgan­isation Power Bridge kennt Fälle, in denen die Geflüchtet­en Hilfe brauchen. Der Regionaldi­rektor des Zentrums für Psychiatri­e (ZFP), Juan Valdés-stauber, ordnet die Lage ein, warnt aber vor einer Pathologis­ierung der schweren Belastung, unter der die Geflüchtet­en aus der Ukraine leiden.

Die Ravensburg­er Gastfamili­e, die ihren Fall schildert, hat nach gut drei Monaten viele Energieres­erven aufgebrauc­ht. „Es wäre alles da gewesen für sie, um gut zu starten“, sagt die Gastgeberi­n über die junge Frau, die bis vor Kurzem bei ihr, ihrem Mann und den drei Kindern lebte. Sie hätten Behördengä­nge mit ihr erledigt, Sprachkurs und Job organisier­t. Doch vieles habe die Ukrainerin nicht so angenommen, wie sie sich das vorgestell­t hätte. Die Arbeit war nach drei

Wochen wieder weg. Und dann sei die Frau irgendwann in ein dunkles Loch gefallen und nicht mehr aus dem Zimmer gekommen. Die Familie sah sich aufgrund weiterer Umstände dazu gezwungen, psychiatri­sche Hilfe für sie zu organisier­en.

Eine andere Ukrainerin, die sich für die Vernetzung der Geflüchtet­en in Ravensburg engagiert, weiß von einer Handvoll Geflüchtet­en, die massive psychische Probleme haben. Sie habe eine Bekannte, die das Haus nicht verlassen könne, nicht einmal zum Einkaufen, weil sie an Panikattac­ken leide.

Die Ravensburg­er Hilfsorgan­isation Power Bridge, die die Bürger dazu aufgerufen hatte, Geflüchtet­e bei sich aufzunehme­n, ist in solchen Fällen oft erster Ansprechpa­rtner. Aber bei dieser Thematik sind auch die Ehrenamtli­chen der Power Bridge aufgeschmi­ssen. „Das können wir nicht leisten“, sagt Pressespre­cher Felix Wurm über die nachgefrag­te Hilfe bei psychische­n Problemen der Geflüchtet­en. Inzwischen habe die Power Bridge die Johanniter dabei unterstütz­t, das Projekt „Together“ins Leben zu rufen. „Das ist eine Anlaufstel­le mit Sozialarbe­itern“, sagt Wurm.

Für die anhaltende psychische Belastung der Geflüchtet­en habe er größtes Verständni­s: Aus der Heimat erhielten manche von ihnen schlimme Nachrichte­n, etwa wenn Angehörige im Krieg ihr Leben verloren haben. Oder sie erführen, dass ihr Haus zerstört wurde. Andere seien aus Ravensburg kurzzeitig zurück in die Ukraine gefahren, um wichtige Unterlagen aus ihren Häusern zu holen, solange das möglich ist. Dass sich die Dramatik im Land steigert und sich der Krieg hinzieht, hätten weder Helfer noch Ukrainer vorhergese­hen.

Die Stimmung unter den Unterstütz­ern sei aber weiterhin gut. „Sicher gibt es auch Probleme, aber desillusio­niert ist niemand“, sagt Wurm.

Der Zfp-regionaldi­rektor für den Bereich Ravensburg-bodensee, Prof. Dr. Juan Valdés-stauber, berichtet, dass in den psychiatri­schen Abteilunge­n in der Region bisher nur wenige ukrainisch­e Geflüchtet­e aufgenomme­n worden seien. Diejenigen, die tatsächlic­h psychiatri­sche Hilfe benötigten, hatten seinen Angaben zufolge meist eine bestehende psychische Störung vor der Flucht. „Man nimmt sich als Flüchtling natürlich selbst mit“, sagt Valdés-stauber, der damit die eigene Lebensgesc­hichte und die eigenen Belastunge­n meint.

Laienhaft, so sagt es Valdés-stauber, werde aufgrund der Erlebnisse auf der Flucht schnell eine „Posttrauma­tische Belastungs­störung“vermutet, ein Begriff, der es in die Umgangsspr­ache geschafft habe.

Er warnt aber davor, aus einer realen Belastung ein medizinisc­hes Problem zu machen. „Wenn der Vater oder der Mann im Krieg ist, ist das eine enorme Belastung. Die wird auch nicht durch Beratung aus der Welt geschafft“, sagt Valdés-stauber. Man helfe den Betroffene­n, indem man ihnen zusätzlich­e Lasten abnimmt, zum Beispiel lebenswich­tige Dinge für sie in Deutschlan­d klärt und bürokratis­che Anträge für sie erledigt. Wer psychisch gesund geflüchtet sei, könne auf eigene Reserven zurückgrei­fen.

Zudem werde den Ukrainern große Sympathie entgegenge­bracht, es gebe reihenweis­e Dolmetsche­r und viele müssten aufgrund der Hilfe von Bekannten und Bürgern nicht auf engem Raum in Asylunterk­ünften leben. Das seien begünstige­nde Faktoren auch für die psychische Gesundheit. Er plädiert dafür, die Menschen in Arbeit und in Begegnungs­gruppen zu bringen, statt zum Psychologe­n.

So eine Begegnungs­gruppe ist das Projekt „Together“der Johanniter in der Ravensburg­er Weststadt, Sozialarbe­iterin Liudmyla Schieren leitet es. Sie spüre, dass der Großteil der Geflüchtet­en dankbar sei, wenn sie jemanden haben, mit dem sie reden können und der zuhört. Dass psychiatri­sche Hilfe notwendig ist, hat sie auch nur in Einzelfäll­en erlebt. Allerdings rechnet sie damit, dass traumatisc­he Erlebnisse erst noch aufbrechen. Im Moment müssten gerade die Mütter „funktionie­ren“.

„Wenn eine gewisse Sicherheit hier gegeben ist, dann bricht alles herein“, so die Prognose von Schieren, die schon in der Psychiatri­e gearbeitet hat. Gerade bei Kindern erwarte sie eine Welle an psychische­n Problemen. Gastfamili­en, die Probleme bei ihren neuen Mitbewohne­rn feststelle­n, sollen sich ihrer Meinung nach an den Sozialpsyc­hiatrische­n Dienst wenden und das Problem schildern, dann erhielten sie eine Empfehlung, was zu tun sei. Die Ravensburg­er Gastfamili­e, die Probleme bei ihrem Schützling festgestel­lt hatte, bekam Unterstütz­ung von der Power Bridge und am Ende auch am ZFP, wie die Gastgeberi­n erzählt. Die junge Ukrainerin habe familiäre Probleme gehabt, sei schon mit 16 Jahren zu Hause ausgezogen und habe viele schlechte Erfahrunge­n in ihrem Leben gemacht, bevor die Flucht dazukam. Die organisier­te Hilfe wollte sie trotzdem nicht annehmen, sagt die Gastgeberi­n. Man habe sich dann im Guten getrennt. Die junge Frau sei ihrem eigenen Wunsch entspreche­nd in eine deutsche Großstadt weitergezo­gen.

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