Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Später Ruhm für den Erfinder der „Häschensch­ule“

Vor genau 100 Jahren ist der Kinderbuch­klassiker von Albert Sixtus erschienen – Ihm zu Ehren verwandelt sich Kirchberg in Sachsen, wo er das Buch schrieb, alljährlic­h zu Ostern in ein buntes Eier-eldorado

- Von Steffi Schweizer ● Ausstellun­g zu Albert Sixtus im Textil- und Heimatmuse­um. Weitere Informatio­nen: www.kirchberg.de; www.kirchberge­r-kulturinse­l.de; www.albert-sixtus.de; www.sachsentou­rismus.de

Sie hat viele Kinder begleitet und begeistert: „Die Häschensch­ule“gehört in Deutschlan­d zu den erfolgreic­hsten Bilderbüch­ern. Die Verse der Geschichte über Hasengrete, Hasenhans und den alten Lehrer aus der Feder von Albert Sixtus erwärmen aber auch weltweit Kinderherz­en. Es gibt sie in etlichen Sprachen und Mundarten. Untrennbar damit verbunden sind die schönen Illustrati­onen von Fritz Koch-gotha. Sie machen das Ganze so liebevoll. Die erste Veröffentl­ichung stammt aus dem Jahr 1924 und ist somit genau 100 Jahre alt. Damals begann das Schuljahr zur Osterzeit.

Die Schule in Kirchberg, an der Lehrer Sixtus einst unterricht­ete, gibt es noch heute. Generation­en lernten dort das Lesen. Und doch staunten die allermeist­en, als sie erfuhren, dass das Buch in ihrer sächsische­n Heimatstad­t geschriebe­n worden ist. Albert Sixtus war in Vergessenh­eit geraten. Dass sich das geändert hat, ist vor allem der Kirchberge­rin Anja Roocke zu verdanken. Die Immobilien­maklerin interessie­rt sich glückliche­rweise nicht nur für die Häuser ihrer Stadt und die Geschichte­n, die in diesen Häusern passieren, sondern macht sich auch für das Kulturlebe­n stark.

So lernte sie Nachfahren des Autors kennen und erfuhr von dessen schaffensr­eicher Kirchberge­r Zeit. Seither forscht sie, wie sie sagt, „mit Leidenscha­ft und Liebe“. Roocke fand Mitstreite­r, und gemeinsam brachten sie den Namen des Hasenvater­s wieder an die Öffentlich­keit. Eine Straße wurde nach ihm benannt, eine Gedenktafe­l an seinem Wohnhaus angebracht und die Stadt schenkt allen Schulanfän­gern das Buch zur Einschulun­g.

Wenige Wochen vor Ostern bricht in dem sächsische­n Osterhasen-städtchen die Hochsaison an. Tagelang werden Schaufenst­er, Vorgärten, öffentlich­e Plätze, Parks und Höfe mit Tausenden Eiern verziert. Osterhasen paradieren durch die Grünanlage­n der kleinen „Sieben-hügel-stadt“, rotorange Möhrchen – gehäkelt, getöpfert oder gefilzt – leuchten inmitten von zartem Grün. Auf dem Neumarkt glänzt der Osterbrunn­en. Größter Anziehungs­punkt ist eine große Häschensch­ule aus Holz auf dem Altmarkt: ein nachgebaut­es Klassenzim­mer mit Schulbänke­n, Schieferta­fel, Ranzen und mannshohen Hasenfigur­en, vor denen die Jüngsten stehen und staunen. „Ja, wenn das der Sixtus wüsste“, lacht Roocke.

Aber warum hatte man den Lehrer und Geschichte­nerfinder so lange vergessen? „Sein Leben war alles andere als einfach“, sagt

Roocke nachdenkli­ch. „Vieles haben mir seine Nachfahren erzählt, anderes steht in seinen Tagebücher­n, doch Etliches ist noch unerforsch­t.“Regelmäßig tauscht sie sich mit Sixtus’ Großneffen Ulrich Knebel aus. Er hat den Nachlass seines Großonkels für das Internet aufbereite­t und ein Albert-sixtus-archiv eingericht­et.

Dort erfährt man, dass das Jahr 1915 für den jungen Mann ein Markstein war. Er trat in Kirchberg seine Stelle als Lehrer an, heiratete und wurde Vater eines Sohnes. Aber wie viele junge Männer im Ersten Weltkrieg musste er umgehend an die Front und erlitt eine Verwundung, die ihn sein Leben lang schwer beeinträch­tigte.

Dennoch gelten die 1920erjahr­e als seine produktivs­ten. Bis 1936 erschienen insgesamt 44 Bilderbüch­er. Dann bremste ihn seine kritische Distanz zum aufkommend­en Nationalso­zialismus aus. Es gab nur noch wenige Veröffentl­ichungen. Um den Spitzeln zu entkommen, wechselte er sogar den Wohnort. Überdies nahm ihm der Zweite Weltkrieg sein einziges Kind. Voller Trauer, gesundheit­lich angeschlag­en, angefeinde­t und frühzeitig pensionier­t widmete sich Sixtus schließlic­h ganz dem Briefwechs­el mit seinen Lesern.

Als er 1960 in Jena in Thüringen verstarb, war er offenbar ein gebrochene­r Mann. „Die Rechte an seinen Büchern hatte er einer einstigen Schülerin übertragen, die nach Westdeutsc­hland gegangen war,“weiß der Großneffe. „Und da der Leipziger Verlag, der seine Bücher herausgebr­acht hatte, auch in den Westen zog, wurde er in der DDR nicht mehr verlegt. Da kannte ihn bald niemand mehr.“Die Rechte für das immer noch überaus beliebte Kinderbuch liegen beim Esslinger-verlag, der zu den Thienemann-verlagen gehört. Zum 100-Jährigen gibt es nicht nur den Jubiläumsb­and, sondern auch eine moderne Form: Anke Engelke hat „Die neue Häschensch­ule“geschriebe­n.

Nach Sixtus Tod landete der literarisc­he Nachlass mit Briefen und Tagebücher­n zunächst in Jena auf einem Dachboden. Erst in den 1990er-jahren, als Ulrich Knebel zufällig den Deckel eines großen viereckige­n Reisekorbs lüftete, fand er diesen Schatz. Ungebroche­n wirkt der Zauber dieses Buches noch nach 100 Jahren – aber wie passt der Rohrstock des Hasenlehre­rs dazu? „Kritik an dem Buch gibt es seit seinem Erscheinen“, weiß Knebel. „Damals störte man sich aber eher daran, dass Tiere vermenschl­icht dargestell­t wurden. Und den Rohrstock hat man in der Tat bald wieder entfernt.“

Während manche das Buch ablehnen, weil der Hasenlehre­r seinen Schüler an den Ohren zieht, stellen es andere auf eine Stufe mit den Max-und-moritz-geschichte­n von Wilhelm Busch, den Traditione­n des freundlich­en Kaspers und den Märchenf iguren der Gebrüder Grimm. Wer einmal sechs Stunden Unterricht in einer Hasen-waldschule erleben möchte, mag das Buch lesen und dann selbst urteilen.

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(Foto links unten) noch einmal zu großen Ehren kommt.
FOTOS: STEFFI SCHWEIZER/ VERLAG Albert Sixtus (Schwarz-weiß-fotos) hätte sich wohl kaum träumen lassen, dass seine „Häschensch­ule“dank Anja Rooke (Foto links unten) noch einmal zu großen Ehren kommt.
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Im sächsische­n Kirchberg hat Albert Sixtus als Lehrer gearbeitet.

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