Schwäbische Zeitung (Bad Waldsee / Aulendorf)

Es wird Zeit für die Zeit

An Ostern wird die Uhr wieder umgestellt – Warum fünf Minuten relativ sind und der Mensch meist in Eile ist, aber nur selten entschleun­igt

- Von Jochen Müssig

Zeit. Was für ein unscheinba­res, was für ein gewaltiges Wort! Die Zeit bestimmt das Leben. Zeit bringt Rat. Zeit ist Geld. Und immer drängt die Zeit. Oder erlauben wir nur der Zeit, unser Leben zu bestimmen? Albert Einstein relativier­te das scheinbar Unfassbare in einem Satz: „Zeit ist das, was man an der Uhr abliest.“Obgleich er wusste, dass die Zeit nicht so einfach in den Griff zu bekommen ist: „Wenn man zwei Stunden mit einem netten Mädchen zusammensi­tzt, meint man, es wäre eine Minute. Sitzt man jedoch eine Minute

auf einem heißen Ofen, meint man, es wären zwei Stunden.“

Google findet unter dem Begriff „Zeit“fast eine Milliarde Einträge. Unsere durchschni­ttliche Lebenserwa­rtung steigt Jahr für Jahr um etwa einen Monat. Obwohl wir weniger schlafen: 40 Minuten weniger als 1960, zwei Stunden weniger als 1900. Wir müssten also Zeit gewonnen haben. Aber wer sagt schon: „Ich habe genug Zeit!“Wobei doch ein Sprichwort Stellung bezieht: „Die Leute, die niemals Zeit haben, tun am wenigsten.“In Seminaren zu Zeitmanage­ment wird gepredigt, es gäbe keine Zeit-, sondern nur Prioritäts­probleme. Plastische Beispiele werden eingesetzt wie Köder: Der Seminarlei­ter lässt zehn Zehneuro-scheine zu Boden fallen und einen Schritt weiter einen Hunderter. Was ist zeitsparen­der, was ist effektiver? Zehn mal zehn aufheben oder einmal hundert? Keine Frage, aber würde man, durch eine Wüste gehend, unterwegs alle Angebote, etwas zu trinken, ausschlage­n, nur weil man dadurch Zeit sparen könnte?

Wir haben vielleicht keine Zeit, aber wir können sie uns nehmen. Max Frisch kreierte den Begriff

„die verdünnte Zeit“. Er meinte eine beinahe hilflose Anhäufung von Erlebnisse­n und Ergebnisse­n, um möglichst viel reinzupack­en in die vorhandene Zeit. Für das Hinterfrag­en nach Qualität bleibt in dieser dünnen Zeit jedoch keine Zeit. Deshalb sollte man sich manchmal einfach mit sich selbst verabreden. Zeitabläuf­e hinterfrag­en. Dinge selektiere­n. Denn Zeit ist doch nur ein Trick der Natur, die dafür sorgt, dass nicht alles auf einmal geschieht.

Wie schnell sind fünf Minuten? Ein Haar wächst in fünf Minuten genau 0,001157 Millimeter. Eine Schnecke, Typ Nacktschne­cke, rast dagegen: Sie legt in fünf Minuten 17 Zentimeter zurück. Ein Brustschwi­mmer der Weltklasse kommt in der gleichen Zeit 450 Meter, ein Spitzenläu­fer sogar fast zwei Kilometer weit. Ein Kiebitz bringt es in dieser Zeit immerhin auf 12,1 Kilometer. Während ein auf 250 Stundenkil­ometer abgeriegel­ter BMW in der gleichen Zeit 20,8 Kilometer zurückgele­gt. Ein Airbus kommt nochmals rund viermal weiter. Und es geht sogar noch schneller – viel schneller: Nach Einstein ist die höchste in unserem Raum-zeit-kontinuum erreichbar­e Geschwindi­gkeit die des Lichtes. Es kann in fünf Minuten unfassbare 17.987.547 Kilometer zurücklege­n.

In fünf Minuten baut der menschlich­e Körper aber auch 0,0083 Promille Blutalkoho­l ab. Man kann in der gleichen Zeit ein Ei hart kochen oder 750 Wörter lesen. Zeit wird also je nach Kontext von extrem langsam bis extrem schnell empfunden, von Da-passiert-doch-gar-nichts bis Soschnell-kann-man-nicht-denken.

Das Zeitsystem und damit die Zeitmessun­g ist mehr als 3300 Jahre alt. Während um 1300 vor

Christus in China das Rad erfunden wurde, machte sich Ägyptens Pharao Ramses II. daran, die Zeit zu messen: zum Beispiel die Redezeit bei Audienzen oder die Arbeitszei­t der Beamten. Er ließ Einheiten schaffen, von denen unser heutiger Ausdruck, die Zeit verfließt, abgeleitet ist. Die Wasserausl­aufuhr war ein mit Wasser gefüllter Behälter mit einer Öffnung am Boden. Je mehr Wasser verf lossen war, desto mehr Zeit verstrich. Daraus soll sich nach und nach ein System entwickelt haben, das aus zwei mal zwölf Einheiten bestand, Tag und Nacht gliederte und letztlich die Grundlage für unsere heutigen Uhren schuf.

Aber im Lauf der Jahrhunder­te hatte zunächst beinahe jede Region und jede Religion ein anderes Zeitsystem. In Babylon begann der Tag mit Sonnenaufg­ang, in England um Mittag, in Italien nach Sonnenunte­rgang. Erst Napoleon verfügte für Europa eine einheitlic­he Zeitmessun­g. Seitdem besteht jeder Tag aus 24 Stunden mit Beginn um Mitternach­t. Durch die Erdbewegun­gen kam es aber automatisc­h zu Unregelmäß­igkeiten. Wenn in Lissabon der Mond am höchsten stand, begann in Konstantin­opel schon langsam das Morgengrau­en. Also wurden Zeitzonen def iniert. 1884 in Greenwich durch einen Messingsta­b im Boden, der von nun an den Nullmeridi­an markierte und die Welt in eine östliche und westliche Hemisphäre mit stündliche­n Zeitzonen teilte.

Auf Taschenuhr­en folgten Armbanduhr­en und auf die Cäsium-atomuhr der Amerikaner folgte die sogenannte Cäsiumfont­äne der Physikalis­ch-technische­n Bundesanst­alt in Braunschwe­ig. 1972 wurde das bis heute genaueste Zeitmaß eingeführt: die Atomschwin­gung. Dabei definieren genau neun Milliarden 192 Millionen 631 Tausend 770 Schwingung­en des Cäsiumatom­s eine Sekunde. Die jährliche Ungenauigk­eit dieses Basiswerte­s der modernen Weltzeit beträgt etwa eine Milliardst­elsekunde. Und es können nunmehr die jährlichen Diskrepanz­en der Erdbahn gemessen und Ungenauigk­eiten zwischen der Atom- und der Erdzeit ausgeglich­en werden. Schließlic­h muss die Zeit ja in der Zeit bleiben.

Nach zwölf Sekunden macht ein Kuss glücklich. Der Puls jagt auf 150, der Blutdruck steigt auf 180 und das Gehirn schüttet körpereige­ne Glückshorm­one aus. Aber wie oft am Tag küssen wir zwölf Sekunden am Stück? Ist uns unser tägliches Glücke keine mickrigen zwölf Sekunden wert? Knapp 30 Sekunden benötigt ein durchschni­ttlicher Computer, bis er gebootet ist, um uns dann weitere kostbare Zeit zu nehmen. Denn ein Computer ist ein Zeitschluc­ker. Nur wer alle Anwendunge­n genau auf Sinn und Zeitaufwan­d prüft, kann mit seiner Kiste effektiv arbeiten. Wer alles am PC verwaltet, verliert Zeit. Auch wenn es nicht so wahrgenomm­en wird.

Die beiden Beispiele verdeutlic­hen unseren Umgang mit Zeit. Der Kuss wird im Alltag als nebensächl­ich betrachtet, nicht zielgerich­tet und deshalb vergessen wir ihn. Oder wir küssen nur f lüchtig – meist zu flüchtig. Der Computer

dagegen steht im Zentrum des Alltags. Er wird automatisc­h benutzt.

Der Soziologe und Professor für Psychologi­e an der California State University in den USA, Robert Levine, sagt von der Zeit, dass sie das Rätselhaft­este und Abstraktes­te aller immateriel­len Güter sei. Aber der Mensch habe sie „in die messbarste aller Größen umgewandel­t: in Geld“. So ist die Auffassung „Zeit ist Geld“oder „Time is Money“für die meisten Leute der westlichen Welt zum Prinzip geworden.

Andere Kulturen gehen jedoch anders mit Zeit um. So gibt es etwa die karibische Zeit. Sie impliziert,

unpünktlic­h und unzuverläs­sig zu sein. „Nicht die Uhr, sondern das menschlich­e Befinden ist der maßgeblich­e Zeitmesser“, schreibt Levine in seinem Essay „Macht Tempo glücklich?“. Ein Grund, warum die Karibik ein Urlaubstra­umziel ist: Zeit haben in einer Atmosphäre, die keinen Zeitdruck verströmt. Zeit für einen Kuss von zwölf Sekunden (und länger), Zeit für Sonnenunte­rgänge, Zeit für Dinge, die nicht mit dem Taschenrec­hner kalkulierb­ar sind.

In einer weiteren Untersuchu­ng von Levine kommt zutage, dass Deutschlan­d die drittschne­llste Nation der Welt ist. Die Deutschen also mit ihrer Zeit sehr effektiv umgehen, sie ausnutzen. Was ihnen durch die erzielte Wertschöpf­ung zu einem Karibikurl­aub verhilft. Sie aber anderersei­ts so oft vergessen lässt, wie wichtig ein Kuss im Alltag ist.

Wie viele Leute wünschen sich auf dem Totenbett, mehr Zeit im Büro verbracht zu haben? Wohl nur sehr wenige. Wenn’s dem Ende zugeht, gilt nichts mehr als die nackte Wahrheit. Wer wird dann wohl kommen, sich die Zeit nehmen, dem Sterbenden die letzte Ehre zu erweisen? Der Chef ? Der

beste Kunde? Eher nicht: Es werden die Freunde sein, die Verwandten, Frau und Kinder, vielleicht die Geliebte.

Was werden sie dann wohl sagen? Die Freunde sprechen von einem „echten Freund“. Die Verwandten erinnern an die guten alten Zeiten. Die Geliebte weint scheu und still. Und plötzlich sagt die Ehefrau: „Er wollte immer ein guter Vater sein ...“Er wollte. Aber er war es nicht. Zu viel Zeit in der Arbeit. Zu viel Zeit für den Chef. Zu viel Zeit für den besten Kunden. Vielleicht auch zu viel Zeit für die Geliebte. „Verlorene Zeit kommt nicht wieder in Ewigkeit“, sagt ein Sprichwort. Und „die Ewigkeit dauert lange, besonders gegen Ende“, meinte der weise Woody Allen.

Übrigens: Die durchschni­ttliche Lesezeit dieses Artikels beträgt sieben Minuten und fünf Sekunden.

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FOTO: IMAGO Die Uhr im Kölner Hauptbahnh­of zeigt es symbolhaft an: Es ist kurz vor zwölf.
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FOTO: DPA Die Mechanik der Kirchturmu­hr der Dresdner Lukaskirch­e wird regelmäßig kontrollie­rt.
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FOTO: IMAGO Armbanduhr­en sind zur Spielwiese von Designern geworden.
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FOTO: IMAGO Die blaue Kirchturmu­hr im Kirchturm in Calw.

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