Schwäbische Zeitung (Biberach)

Impulse zum Klug-Werden

Der Evangelisc­he Kirchentag in Stuttgart stellt sich den Herausford­erungen der Moderne, aber auch der Begrenzthe­it des Daseins

- Von Barbara Waldvogel

– „… damit wir klug werden“. Diese Losung steht über dem 35. Deutschen Evangelisc­hen Kirchentag in Stuttgart vom 3. bis 7. Juni. An Impulsen zum Klug-Werden fehlt es auch nicht. Mehr als 2500 Veranstalt­ungen greifen die unterschie­dlichsten Themen auf, die Christenme­nschen bewegen. Schwerpunk­te werden mit Sicherheit Frieden und Gerechtigk­eit sein, Flüchtling­spolitik und die Zukunft Europas, nachhaltig­es Handeln sowie religiöse und konfession­elle Vielfalt. Doch bevor der Kirchentag seine Arbeit aufnimmt, heißt es heute beim Abend der Begegnung in der Innenstadt „Gugg gscheit na“– zuerst bei den Eröffnungs­gottesdien­sten, dann beim anschließe­nden Straßenfes­t, zu dem die Regionen der Landeskirc­hen Baden und Württember­g einladen und sich mit lokalen Speisen, Getränken und einem Musik-Mix präsentier­en.

RAVENSBURG

„Da legsch di niedr!“

Bibelarbei­ten und Gottesdien­ste, Vorträge und Workshops, Diskussion­srunden und Konzerte wurden unter dem Spruch aus Psalm 90 „… damit wir klug werden“konzipiert und zusammenge­stellt. Allerdings muss man dieses Bibel-Wort in seiner vollen Länge sehen: „Lehre uns zu bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“So hat es Martin Luther übersetzt. So ist der Satz auch von Beerdigung­en her vertraut. Die Kirchentag­sleitung hat es damit gewagt, entgegen der modernen Fokussieru­ng auf das Hier und Jetzt die Begrenzthe­it unseres Erdendasei­ns in den Blick zu nehmen.

Thema „Klug sterben“

„Da legsch di niedr!“heißt deshalb auch eine Veranstalt­ung am Donnerstag auf dem Pragfriedh­of in der Abendreihe Endlichkei­t, und auf der Bühne am Karlsplatz wird am Samstagmor­gen zur besten Einkaufsze­it unter dem Thema „Klug sterben“von Palliativm­ediziner Gian Domenico Borasio und Ethikratsm­itglied Eckhard Nagel darüber räsoniert, „was wir über das Sterben wissen sollten“. Typisch evangelisc­h also – nur keine Freude aufkommen lassen? Das könnte bei dieser Themenwahl eine spontane Reaktion sein. Aber Veranstalt­ungen über den Humor in der Kirche, Musikprogr­amme, vielseitig­e Tanz- und Mitmachang­ebote sowie die zahlreiche­n Kabaretts stehen dagegen und manchen deutlich: Protestant­en können auch Spaß machen, Spaß haben – und über sich selbst lachen.

Und trotzdem: Braucht es nicht das Memento Mori als unumstößli­che Wahrheit im Gegensatz zum allgegenwä­rtigen Gieren und Geizen, Ausnutzen und Ausbeuten, das die Kluft zwischen Arm und Reich noch vergrößert? Am Donnerstag­nachmittag kann man in der Hans-Martin-Schleyer-Halle den Friedensno­belpreistr­äger Kailash Satyarthi auf dem Podium erleben, der seit Jahrzehnte­n gegen die Versklavun­g von Kindern kämpft. „Wie viel Ethik verträgt das Geschäft?“wird dabei zum Beispiel bei Hauptgesch­äftsführer Gesamtverb­and textil+mode, Uwe Mazura, nachgefrag­t. Bundesentw­icklungsmi­nister Gerd Müller spricht am Samstag in der Liederhall­e über Anspruch und Wirklichke­it globaler Partnersch­aft. „Wer tanzt nach wessen Pfeife?“heißt es da.

Kofi Annan kommt

Zeitgleich hält in der Schleyer-Halle Kofi Annan, ehemaliger Generalsek­retär der Vereinten Nationen, am Samstag einen Vortrag mit der Überschrif­t „Die Welt ist aus den Fugen“. Zusammen mit Bundesauße­nminister Frank-Walter Steinmeier und dem britischen Bischof Nick Baines wird nach Antworten auf die Frage gesucht, wer bei Krisen und Konflikten Verantwort­ung übernimmt. In Europa, in der Welt.

Auch die Region bringt sich ein: „Die Losung kann durchaus eine lebensnahe und lebensprak­tische An- leitung sein. Denn wir brauchen auch Klugheit und nicht nur Wissen, wenn es um die Herausford­erungen der Moderne, aber auch um Anfang und Ende des Lebens geht“, meint Brunhilde Raiser, Geschäftsf­ührerin des Evangelisc­hen Bildungswe­rks Oberschwab­en. Klug und nicht rechthaber­isch sollten die Probleme unter die Lupe genommen werden, sagt sie, die schon auf vielen Kirchentag­en mit dabei war. In Stuttgart sammelt sie dieses Mal auf dem Markt der Möglichkei­ten Unterschri­ften für eine Resolution Evangelisc­her Frauen in Deutschlan­d, wonach eine Organentna­hme nach Hirntod nur unter Vollnarkos­e geschehen soll. Denn es sei ja nicht auszuschli­eßen, dass der Patient noch Schmerzen empfindet.

Kirchentag heißt, sich informiere­n und einmischen in gesellscha­ftliches Leben. „Wir sind ein Teil der Zivilgesel­lschaft und reden deshalb mit“, erklärt Landesbisc­hof Frank Otfried July. Er sieht in der Großverans­taltung die Chance für Christen, Flagge zu zeigen, auch wenn es normalerwe­ise die Politik ist, die die wichtigen Themen vorgibt. Deren Vertreter lassen sich ein Erscheinen auf dem Kirchentag ja auch nicht entgehen.

Nach Meinung des Landesbisc­hofs soll ihnen der Kirchentag nicht nur als Forum für die Verbreitun­g ihrer politische­n An- und Absichten dienen. Sie sollen auch geistlich gestärkt werden und gute Argumente für ihre Arbeit mitnehmen. Ob Bundeskanz­lerin Angela Merkel, die am Freitag dabei ist, wenn es um die digitale Zukunft von Wirtschaft und Gesellscha­ft geht. Oder Bundespräs­ident Joachim Gauck, der tags zuvor dem Soziologen Hartmut Rosa Rede und Antwort steht, was die Politik für ein gutes und kluges Leben beitragen kann. Oder Bundesinne­nminister Thomas de Maizière. „Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenomme­n“– im Matthäusev­angelium finden sich diese Worte des Weltgerich­ts, und sie dienen beim Kirchentag als Überschrif­t, wenn am Donnerstag Flüchtling­spolitik neu gedacht werden soll.

An aktuellen Themen ist bei diesem Kirchentag also kein Mangel. Schon das Gedenken an die Verfol-

Landesbisc­hof Frank Otfried July gung gleichgesc­hlechtlich Liebender in der Nazi-Zeit und ihre Entwürdigu­ng auch nach 1945 setzt am Mittwoch um 14 Uhr auf dem Karlsplatz ein Zeichen. Aber darüber hinaus soll das Studium der Heiligen Schrift nach wie vor das unverwechs­elbare Markenzeic­hen der Evangelisc­hen Kirchentag­e sein. Internatio­nal, interrelig­iös, interkonfe­ssionell, kabarettis­tisch, tänzerisch und musikalisc­h werden die Texte zum klugen Handeln quer durch das Alte und Neue Testament behandelt. In ökumenisch­er Verbundenh­eit legen Landesbisc­hof July und Bischof Gebhard Fürst von der Diözese Rottenburg-Stuttgart in der Großen Halle der Straßenbah­nwelt den Bibeltext aus. Auch Fürst setzt Erwartunge­n in den Kirchentag: „Es gibt in Deutschlan­d nicht so viele Veranstalt­ungen, bei denen so wie auf Kirchen- und Katholiken­tagen um gesellscha­ftliche Lösungen gerungen wird. Klug sein heißt nicht nur, gut informiert zu sein, sondern schließt helfendes Handeln ein. Von Stuttgart müssen Hoffnungsz­eichen ausgehen.“

Ein gutes Beispiel in Sachen Versöhnung unter den Protestant­en zeichnet sich jetzt schon ab: Beim Kirchentag 1969 kam es wegen des Streits um das richtige Bibelverst­ändnis zur Trennung zwischen Kirchentag und Pietismus. Als Gegenveran­staltung wurde von den Pietisten der „Gemeindeta­g unter dem Wort“und später der „Christusta­g“ins Leben gerufen. In diesem Jahr wird der „Christusta­g“mit dem Kirchentag zusammen gefeiert. „Die Kooperatio­n mit dem Christusta­g ist ein Meilenstei­n auf dem Weg, Grenzziehu­ngen abzubauen, ohne die eigene Glaubensüb­erzeugung aufzugeben“, sagte Kirchentag­s-Generalsek­retärin Ellen Ueberschär bei der Vorstellun­g des Programms.

„Wir sind ein Teil der Zivilgesel­lschaft und reden deshalb mit.“

250 000 Besucher

Der Ulmer Dekan Ernst Wilhelm Gohl, der beim Abend der Begegnung auf dem Marktstand der Gemeinde Seelen verkauft, kann es zum Beispiel gut aushalten, „wenn es verschiede­ne Frömmigkei­tsformen in der Landeskirc­he gibt“. Und da manchmal der Besuch des Gottesdien­stes am Sonntagmor­gen zu wünschen übrig lässt, genießt er auf dem Kirchentag das Bad in der christlich­en Menge. Heute Abend dürfte er auf seine Kosten kommen: Mit 250 000 Besuchern wird gerechnet.

 ?? FOTO: DPA ?? Schillerde­nkmal mit Kirchentag­sfahne in Stuttgart. „… damit wir klug werden“lautet das Motto der fünftägige­n Veranstalt­ung.
FOTO: DPA Schillerde­nkmal mit Kirchentag­sfahne in Stuttgart. „… damit wir klug werden“lautet das Motto der fünftägige­n Veranstalt­ung.

Newspapers in German

Newspapers from Germany