Schwäbische Zeitung (Biberach)
Impulse zum Klug-Werden
Der Evangelische Kirchentag in Stuttgart stellt sich den Herausforderungen der Moderne, aber auch der Begrenztheit des Daseins
– „… damit wir klug werden“. Diese Losung steht über dem 35. Deutschen Evangelischen Kirchentag in Stuttgart vom 3. bis 7. Juni. An Impulsen zum Klug-Werden fehlt es auch nicht. Mehr als 2500 Veranstaltungen greifen die unterschiedlichsten Themen auf, die Christenmenschen bewegen. Schwerpunkte werden mit Sicherheit Frieden und Gerechtigkeit sein, Flüchtlingspolitik und die Zukunft Europas, nachhaltiges Handeln sowie religiöse und konfessionelle Vielfalt. Doch bevor der Kirchentag seine Arbeit aufnimmt, heißt es heute beim Abend der Begegnung in der Innenstadt „Gugg gscheit na“– zuerst bei den Eröffnungsgottesdiensten, dann beim anschließenden Straßenfest, zu dem die Regionen der Landeskirchen Baden und Württemberg einladen und sich mit lokalen Speisen, Getränken und einem Musik-Mix präsentieren.
RAVENSBURG
„Da legsch di niedr!“
Bibelarbeiten und Gottesdienste, Vorträge und Workshops, Diskussionsrunden und Konzerte wurden unter dem Spruch aus Psalm 90 „… damit wir klug werden“konzipiert und zusammengestellt. Allerdings muss man dieses Bibel-Wort in seiner vollen Länge sehen: „Lehre uns zu bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“So hat es Martin Luther übersetzt. So ist der Satz auch von Beerdigungen her vertraut. Die Kirchentagsleitung hat es damit gewagt, entgegen der modernen Fokussierung auf das Hier und Jetzt die Begrenztheit unseres Erdendaseins in den Blick zu nehmen.
Thema „Klug sterben“
„Da legsch di niedr!“heißt deshalb auch eine Veranstaltung am Donnerstag auf dem Pragfriedhof in der Abendreihe Endlichkeit, und auf der Bühne am Karlsplatz wird am Samstagmorgen zur besten Einkaufszeit unter dem Thema „Klug sterben“von Palliativmediziner Gian Domenico Borasio und Ethikratsmitglied Eckhard Nagel darüber räsoniert, „was wir über das Sterben wissen sollten“. Typisch evangelisch also – nur keine Freude aufkommen lassen? Das könnte bei dieser Themenwahl eine spontane Reaktion sein. Aber Veranstaltungen über den Humor in der Kirche, Musikprogramme, vielseitige Tanz- und Mitmachangebote sowie die zahlreichen Kabaretts stehen dagegen und manchen deutlich: Protestanten können auch Spaß machen, Spaß haben – und über sich selbst lachen.
Und trotzdem: Braucht es nicht das Memento Mori als unumstößliche Wahrheit im Gegensatz zum allgegenwärtigen Gieren und Geizen, Ausnutzen und Ausbeuten, das die Kluft zwischen Arm und Reich noch vergrößert? Am Donnerstagnachmittag kann man in der Hans-Martin-Schleyer-Halle den Friedensnobelpreisträger Kailash Satyarthi auf dem Podium erleben, der seit Jahrzehnten gegen die Versklavung von Kindern kämpft. „Wie viel Ethik verträgt das Geschäft?“wird dabei zum Beispiel bei Hauptgeschäftsführer Gesamtverband textil+mode, Uwe Mazura, nachgefragt. Bundesentwicklungsminister Gerd Müller spricht am Samstag in der Liederhalle über Anspruch und Wirklichkeit globaler Partnerschaft. „Wer tanzt nach wessen Pfeife?“heißt es da.
Kofi Annan kommt
Zeitgleich hält in der Schleyer-Halle Kofi Annan, ehemaliger Generalsekretär der Vereinten Nationen, am Samstag einen Vortrag mit der Überschrift „Die Welt ist aus den Fugen“. Zusammen mit Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier und dem britischen Bischof Nick Baines wird nach Antworten auf die Frage gesucht, wer bei Krisen und Konflikten Verantwortung übernimmt. In Europa, in der Welt.
Auch die Region bringt sich ein: „Die Losung kann durchaus eine lebensnahe und lebenspraktische An- leitung sein. Denn wir brauchen auch Klugheit und nicht nur Wissen, wenn es um die Herausforderungen der Moderne, aber auch um Anfang und Ende des Lebens geht“, meint Brunhilde Raiser, Geschäftsführerin des Evangelischen Bildungswerks Oberschwaben. Klug und nicht rechthaberisch sollten die Probleme unter die Lupe genommen werden, sagt sie, die schon auf vielen Kirchentagen mit dabei war. In Stuttgart sammelt sie dieses Mal auf dem Markt der Möglichkeiten Unterschriften für eine Resolution Evangelischer Frauen in Deutschland, wonach eine Organentnahme nach Hirntod nur unter Vollnarkose geschehen soll. Denn es sei ja nicht auszuschließen, dass der Patient noch Schmerzen empfindet.
Kirchentag heißt, sich informieren und einmischen in gesellschaftliches Leben. „Wir sind ein Teil der Zivilgesellschaft und reden deshalb mit“, erklärt Landesbischof Frank Otfried July. Er sieht in der Großveranstaltung die Chance für Christen, Flagge zu zeigen, auch wenn es normalerweise die Politik ist, die die wichtigen Themen vorgibt. Deren Vertreter lassen sich ein Erscheinen auf dem Kirchentag ja auch nicht entgehen.
Nach Meinung des Landesbischofs soll ihnen der Kirchentag nicht nur als Forum für die Verbreitung ihrer politischen An- und Absichten dienen. Sie sollen auch geistlich gestärkt werden und gute Argumente für ihre Arbeit mitnehmen. Ob Bundeskanzlerin Angela Merkel, die am Freitag dabei ist, wenn es um die digitale Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft geht. Oder Bundespräsident Joachim Gauck, der tags zuvor dem Soziologen Hartmut Rosa Rede und Antwort steht, was die Politik für ein gutes und kluges Leben beitragen kann. Oder Bundesinnenminister Thomas de Maizière. „Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich aufgenommen“– im Matthäusevangelium finden sich diese Worte des Weltgerichts, und sie dienen beim Kirchentag als Überschrift, wenn am Donnerstag Flüchtlingspolitik neu gedacht werden soll.
An aktuellen Themen ist bei diesem Kirchentag also kein Mangel. Schon das Gedenken an die Verfol-
Landesbischof Frank Otfried July gung gleichgeschlechtlich Liebender in der Nazi-Zeit und ihre Entwürdigung auch nach 1945 setzt am Mittwoch um 14 Uhr auf dem Karlsplatz ein Zeichen. Aber darüber hinaus soll das Studium der Heiligen Schrift nach wie vor das unverwechselbare Markenzeichen der Evangelischen Kirchentage sein. International, interreligiös, interkonfessionell, kabarettistisch, tänzerisch und musikalisch werden die Texte zum klugen Handeln quer durch das Alte und Neue Testament behandelt. In ökumenischer Verbundenheit legen Landesbischof July und Bischof Gebhard Fürst von der Diözese Rottenburg-Stuttgart in der Großen Halle der Straßenbahnwelt den Bibeltext aus. Auch Fürst setzt Erwartungen in den Kirchentag: „Es gibt in Deutschland nicht so viele Veranstaltungen, bei denen so wie auf Kirchen- und Katholikentagen um gesellschaftliche Lösungen gerungen wird. Klug sein heißt nicht nur, gut informiert zu sein, sondern schließt helfendes Handeln ein. Von Stuttgart müssen Hoffnungszeichen ausgehen.“
Ein gutes Beispiel in Sachen Versöhnung unter den Protestanten zeichnet sich jetzt schon ab: Beim Kirchentag 1969 kam es wegen des Streits um das richtige Bibelverständnis zur Trennung zwischen Kirchentag und Pietismus. Als Gegenveranstaltung wurde von den Pietisten der „Gemeindetag unter dem Wort“und später der „Christustag“ins Leben gerufen. In diesem Jahr wird der „Christustag“mit dem Kirchentag zusammen gefeiert. „Die Kooperation mit dem Christustag ist ein Meilenstein auf dem Weg, Grenzziehungen abzubauen, ohne die eigene Glaubensüberzeugung aufzugeben“, sagte Kirchentags-Generalsekretärin Ellen Ueberschär bei der Vorstellung des Programms.
„Wir sind ein Teil der Zivilgesellschaft und reden deshalb mit.“
250 000 Besucher
Der Ulmer Dekan Ernst Wilhelm Gohl, der beim Abend der Begegnung auf dem Marktstand der Gemeinde Seelen verkauft, kann es zum Beispiel gut aushalten, „wenn es verschiedene Frömmigkeitsformen in der Landeskirche gibt“. Und da manchmal der Besuch des Gottesdienstes am Sonntagmorgen zu wünschen übrig lässt, genießt er auf dem Kirchentag das Bad in der christlichen Menge. Heute Abend dürfte er auf seine Kosten kommen: Mit 250 000 Besuchern wird gerechnet.