Schwäbische Zeitung (Biberach)
Flüchtlingskinder in der Politik
Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen fast drei Millionen Flüchtlinge in den Südwesten
den taten sich schwer mit der Ablehnung, mit der eigenen Mittellosigkeit, auch mit der neuen Sprache. Die ähnelte zwar der eigenen, doch zeigte jeder Einkauf im Dorfladen, jeder Besuch beim Pfarrer diesen Menschen, dass sie anders waren und nicht von hier stammten.
Umso bedeutender scheint die Integration der Jungen, die bei der Flucht noch Kinder waren oder gar erst hier geboren wurden. Zwei der heute wichtigsten Politiker aus dem Südwesten sind Flüchtlingskinder. Neben Kretschmann ist auch Volker Kauder Sohn von Flüchtlingen. Kauders Familie wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aus Jugoslawien vertrieben.
Der Protestant Kauder integrierte sich vor allem über die CDU und deren Jugendorganisation, die Junge Union. Auch wenn er im kleinen Kreis und ohne Mikrofone sehr anrührend von der Geschichte seiner Familie und den Versuchen, sich in Tuttlingen zu integrieren, erzählt, wollte Kauder nicht für diesen Artikel öffentlich über seine Erinnerungen sprechen. Das sei zu privat, teilte er mit, der bei der Schilderung der Flüchtlingsbiographie einen Kauder erkennen ließ, der so gar nicht zum Image des unerbittlichen Einpeitschers passt.
Überall dort, wo sich in den vergangenen Monaten Menschen in Helferkreisen für Flüchtlinge engagiert haben, sind solche dabei, die selbst einmal vor 70 Jahren geflohen sind. Oder deren Eltern sich retteten nach Bad Waldsee, nach Wolfegg oder Ehingen. Oft brechen dann Erinnerungen auf an die Ablehnung, die sie erfuhren in den kleinen Dörfern, in denen auf einmal wildfremde Leute mit durchgefüttert werden sollten. Oder an Lehrmeister, die einen Flüchtlingsbuben aufnahmen, aber darauf bestanden, dass der gefälligst schwäbisch zu reden habe. In einem Dorfladen in Oberschwaben brach vor Monaten eine alte Frau in Tränen aus, als die ersten Flüchtlinge im Dorf ankamen. Sie weinte, weil sie zum ersten Mal nach 70 Jahren über Ablehnung und über Solidarität, die sie erfahren hatte, sprechen konnte.
Auch wenn die Integrationsgeschichte des Winfried Kretschmann bilderbuchartig verlaufen zu sein scheint – die Schwester heiratete einen aus dem Dorf, der Vater war als Lehrer eine Respektsperson – weiß er um die Schwierigkeiten der Integration. „Flüchtling“sei damals ein Schimpfwort gewesen, erinnert sich Kretschmann gegenüber der „Schwäbischen Zeitung“. Und er weiß, dass nicht alle begeistert waren: „Früher war es so, dass die Flüchtlinge teilweise zwangsweise eingewiesen wurden. Da gingen Beamte durch das Dorf und sagten: Du nimmst zwei, du kannst drei aufnehmen. Dass die Leute darüber nicht erfreut waren, kann man sich vorstellen.“
Integration über Sprache
Kretschmann spürte es als Kind, dass Sprache sein Mittel auf dem Weg in diese Gesellschaft war. Die Eltern erzählten über die angenehmen Seiten des Lebens im Ermland, die Geschwister berichteten nur in Andeutungen von der traumatischen Flucht. Und er vollbrachte eine erstaunliche Anpassung: „Sobald ich zu Hause war, habe ich immer hochdeutsch gesprochen und wenn ich draußen war schwäbisch.“Auch wenn der Grüne mit der Aussage kokettiert, er könne heute gar nicht mehr richtig hochdeutsch sprechen, zeigt sein Beispiel vor allem: Integration geschieht über Sprache, über Vereine etwa, über Parteien und Kirchen. Damals wie heute.