Schwäbische Zeitung (Biberach)
Warum Athens Lage so verzweifelt ist
- Es wird eng für Griechenland. Ende dieser Woche sind 300 Millionen und bis Ende des Monats weitere 1,3 Milliarden Euro an den Internationalen Währungsfonds (IWF) fällig. Griechenland kann das nur schaffen, wenn das Land neue Hilfskredite erhält. Neue Kredite gibt es aber nur gegen die Auflagen, welche die verhasste „Troika“bestimmt hat. Weil das zweite Hilfsprogramm mit den bisherigen Auflagen Ende Juni definitiv ausläuft, wird es hektisch – inzwischen ist das Thema wieder einmal „Chefsache“in Berlin.
Und ewig grüßt das Murmeltier in dieser gefühlt unendlichen griechischen Tragödie. Man fragt sich nur, wann der letzte Vorhang fällt. Wie konnte es fünf Jahre nach dem Prolog durch den Ankauf griechischer Staatsanleihen und dem ersten Hilfsprogramm so weit kommen? Wieso ist Griechenland trotz Schuldenschnitt 2013 von 105 Milliarden Euro wieder hoch verschuldet?
Schaut man sich die Ansätze seit 2010 an, hat man die Antwort: Das
RAVENSBURG
marode Steuersystem ist bislang nicht reformiert; die Verwaltung ist immer noch aufgebläht; Konsum ging lange vor Investitionen; der Arbeitsmarkt ist immer noch verkrustet; Phantomrentner und Militärausgaben mögen weggefallen sein, aber der Konsum eben auch. Die fehlende Wettbewerbsfähigkeit tut ihr Übriges. Selbst der Tourismus ist im Vergleich zu anderen Ländern zu teuer. Bei allen gemachten Schritten muss das Land weiter reformiert werden, ohne jede Frage.
Die EU trägt Mitschuld
Wenn die Europäische Union (EU) auf Reformen pocht, dann hat sie selbstverständlich recht. Sie sind und bleiben die Vorbedingungen. Aber die Regierungen sollten zugeben, dass sie ein Land (zumindest stillschweigend wissentlich) in den Euro gelassen haben, das in keiner Weise vorbereitet war. Das gilt vor allem für Deutschland unter Gerhard Schröders Kanzlerschaft. Die EU sollte erst recht eingestehen, dass sie in keiner Phase vor 2010 auf Reformen gedrungen hat. Die EU ist mit schuld, ebenfalls ohne jede Frage.
Erkennt man das, ist klar, dass Griechenland nicht beides machen kann: Zur Reform der Wirtschaft braucht Griechenland Zeit, die es nicht hat. Zur Bezahlung der bereits sehr niedrigen Zinsen braucht Griechenland Geld, das es nicht hat. Was wäre aber, wenn Griechenland den Euro verlassen würde? Das Land würde regelrecht verarmen. Ohne Bürgschaften gäbe es keinen einzigen Euro Investitionen im Land. Die Euroländer müssten ihre Schulden vollständig abschreiben, sodass Deutschland ungefähr 65 Milliarden verlieren würde.
Die Eurozone – auch wenn die finanzielle Stabilität institutionalisiert wurde – würde mindestens in Turbulenzen geraten. Schlimmeres ist aber nicht ausgeschlossen. Und politisch wären Politiker wie AfD-Chef Bernd Lucke, die Front-National-Führerin Marine Le Pen und andere Populisten wieder en vogue, insofern sie sich nicht innerparteilich und innerfamiliär zerlegen. Doch darauf sollte man nicht hoffen. Politisch mag jeder seine Entscheidung treffen, aber ist es das überhaupt ökonomisch wert? Wie gesagt: Ohne die Griechen in Schutz zu nehmen, unschuldig ist die EU an der Lage nicht.
Schuldenschnitt unvermeidlich
Kann man etwas tun? Ja! Man muss ohnehin auf einen Großteil der Schulden verzichten – ein nächster Schuldenschnitt ist unausweichlich. Und man muss die griechische Regierung in die Pflicht nehmen, dass sie ihren Bürgern die Wahrheit erzählt.
Premier Alexis Tsipras und Finanzminister Gianis Varoufakis sind zumindest ökonomisch betrachtet Lügner. Aber auch die Europäer nehmen es mit der Wahrheit nicht ganz so ernst: Merkel & Co. müssen eingestehen, dass ihre Strategien gescheitert sind. Eine neue Ehrlichkeit muss Kern des nächsten Hilfspaketes sein.
Wirtschaftswissenschaftler
ANZEIGE