Schwäbische Zeitung (Biberach)

EU-Gipfel berät heute über Flüchtling­e

Merkel dämpft Erwartunge­n – Theo Waigel im Interview mit der „Schwäbisch­en Zeitung“

- Von Sabine Lennartz, Christoph Plate und Markus Riedl

BERLIN/RAVENSBURG - Bundeskanz­lerin Angela Merkel hat kurz vor dem EU-Gipfel für ihren Kurs in der Flüchtling­spolitik geworben. Sie dämpfte jedoch die Hoffnung auf europäisch­e Verteilung­sschlüssel.

Vor dem Hintergrun­d, dass es bisher noch nicht einmal möglich war, die vereinbart­en 160 000 Flüchtling­e zu verteilen, mache man sich mit der Frage von Kontingent­en lächerlich, so Merkel bei ihrer Rede im Bundestag am Mittwoch. Sie setze auf die Bekämpfung der Fluchtursa­chen und den Schutz der Außengrenz­en. Hilfe bekam sie von EU-Kommission­schef Jean-Claude Juncker. „Die Geschichte wird Angela Merkel recht geben“, sagte Juncker in einem Interview der „Bild“-Zeitung.

In Brüssel wird heute erst die Frage des Brexit auf der Tagesordnu­ng stehen, der britischen Drohung, die EU zu verlassen. Bundeskanz­lerin Merkel nannte das Angebot des EURatspräs­identen Donald Tusk an die Briten eine gute Verhandlun­gsgrundlag­e. Sie zeigte Verständni­s für die britische Forderung, Fehlanreiz­e in den Sozialsyst­emen zu beseitigen. „Es ist selbstvers­tändlich, dass jeder Mitgliedss­taat sein Sozialsyst­em schützen kann“, so Merkel.

Die Politiker rechnen mit einer langen Nacht in Brüssel. Großbritan­niens Premier David Cameron hat bereits angekündig­t, dass er drei Hemden mit nach Brüssel nehmen werde. Das am meisten beachtete Thema beim Gipfel, der bis zum Freitag geplant ist, wird die Frage nach einer solidarisc­hen Verteilung von Flüchtling­en unter den EU-Mitgliedsl­ändern sein.

Der frühere Bundesfina­nzminis- ter Theo Waigel erklärte in einem Exklusivin­terview mit der „Schwäbisch­en Zeitung“, wenn die Verteilung nicht gelinge, müsse den osteuropäi­schen Partnersta­aten deutlich gemacht werden, welche weitreiche­nden Folgen geschlosse­ne Grenzen für Europa hätten. Der CSU-Politiker stellte sich hinter die Bundeskanz­lerin und äußerte Verärgerun­g über die osteuropäi­schen Regierunge­n, die unendlich von der EU profitiert hätten. Aber Europa werde auch diese Krise überstehen, sagte Waigel, der vielen als „Vater des Euro“gilt.

RAVENSBURG - Der frühere Bundesfina­nzminister und CSU-Politiker Theo Waigel gilt als Vater des Euros und als ein glühender Verfechter der europäisch­en Idee. Im Gespräch mit Christoph Plate und Markus Riedl verteidigt der 76-Jährige vor dem heutigen EU-Gipfel den europäisch­en Gedanken. Krisen habe Europa schon viele durchlebt.

Vor einem Jahr glaubten wir noch den Euro in Gefahr, ist jetzt vielleicht gar Europa gefährdet?

Weder waren damals der Euro oder Europa in Gefahr, noch sind sie es heute. Wir sind ohne Frage in einer ernsten Krise. Ich bin überzeugt, dass alle europäisch­en Staaten aus den letzten 100 Jahren so viel gelernt haben, dass sie das Projekt Europa nicht mehr zur Dispositio­n stellen. Vor zwei Jahren haben wir aus Anlass des Jubiläums viel über den Ersten Weltkrieg nachgedach­t und darüber gelesen, wie es zu diesem Krieg kam: Da muss jedem klar sein, dass in Europa mehr auf dem Spiel steht als irgendeine politische Konstrukti­on.

Hört man dem polnischen Präsidente­n zu, Staatsober­haupt des wichtigste­n osteuropäi­schen Landes, kann man den Eindruck gewinnen, dass Europa eigentlich nicht so wichtig sei.

Das ist enttäusche­nd und auch empörend. Diese Länder müssten mehr als andere wissen, was Europa für sie bedeutet. Ohne die Strahlkraf­t Europa wären sie nicht in die Unabhängig­keit gekommen. Diese Länder wären allein, ohne EU und Nato, nicht in der Lage, gegenüber dem Druck von Russland zu bestehen.

Sind die Länder der VisegradGr­uppe, Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn, gegenüber den Altmitglie­dern der EU undankbar?

Ja, das könnte man sagen. Aber das Wort Dankbarkei­t darf man in der Politik nicht erwarten, meistens ja nicht mal in der eigenen Familie.

Ertappen Sie sich als großer Europäer manchmal bei dem Gedanken, dass die EU-Osterweite­rung vielleicht überhastet war?

Nein, keine Sekunde. Sie war notwendig und es war richtig, die Chance nach 1990 zu ergreifen. Das war nur möglich, weil Jelzin sich an das gehalten hat, was Gorbatscho­w vereinbart hat. Unter Putin wäre das wahrschein­lich nicht möglich gewesen. Mein Ärger über die Herrschaft­en, die im Moment in Osteuropa demokratis­ch regieren, ist immer noch gemäßigter als die Angst, die ich vor denen hatte, die dort vor 40 Jahren an der Macht waren.

Gerade hat die Kanzlerin vor dem EU-Gipfel ihren europäisch-türkischen Lösungsans­atz für die Flüchtling­skrise vorgestell­t.

Eigentlich ist es natürlich der richtige Weg, gar keine Frage. Die Kanzlerin verdient da die volle Unterstütz­ung. Wenn es nicht gelingt, die Außengrenz­en zu schützen und die Türkei mit ins Boot zu holen, dann kommt ja die Welle immer stärker auf uns zu. Die daraus folgenden Probleme sind mit Sicherheit größer als der Aufwand, den es bedeutet, die Außengrenz­en zu schützen.

Wann wäre der Zeitpunkt gekommen, etwa die Grenzen zu schließen? Merkel hat gesagt, nach dem EU-Gipfel könne man eine Zwischenbi­lanz ziehen.

Es gäbe durchaus beim EU-Gipfel die Möglichkei­t, den anderen europäisch­en Ländern zu sagen, wenn ihr nicht mitmacht bei einer solidarisc­hen Lösung der Flüchtling­skrise, können wir es nicht alleine machen und die Probleme werden für alle in Europa wesentlich größer. Wenn Plan A scheitert, wird es notwendig, rechtzeiti­g Plan B aufzurufen.

Und der wäre?

Plan B heißt, wenn alle an- deren nicht mitmachen, selbst Österreich, Schweden und unsere Nachbarn zu Grenzmaßna­hmen greifen, bleibt auch uns nichts anderes übrig.

Dann können sich die Osteuropäe­r zurücklehn­en und sagen, dann macht ihr es ebenso wie wir.

Ich bin überzeugt, dass Europa bei Restriktio­nen sehr schnell begreift, dass man einen anderen Weg ein- schlagen und zu gemeinsame­n europäisch­en Lösungen kommen muss. Rückschläg­e wie im Moment sind nicht schön. Die haben wir aber immer gehabt in den letzten Jahrzehnte­n. Europa hat sich von jeder Krise wieder erholt und ist wieder nach vorne gegangen. Was mir im Moment in Europa fehlt, sind Politiker vom Format eines Jacques Delors oder eines Edward Heath in Großbritan­nien. Es fehlt an großen Ge-

stalten, die für Europa kämpfen.

Aber Angela Merkel wird an vielen Orten der Welt als Heldin gefeiert, weil sie nach europäisch­en Lösungen sucht.

..ja, das ist sie auch und ich unterstütz­e sie auch. Sie hat Großartige­s geleistet, sie ist der Verantwort­ung Deutschlan­ds, die in den vergangene­n 150 Jahren noch nie so groß war wie jetzt, gerecht geworden. Ohne Deutschlan­d hätte es ja die bemerkensw­erte Bewältigun­g der Finanzkris­e in Europa nicht gegeben.

Horst Seehofer machte den Osteuropäe­rn gerne vor, wie man die Kanzlerin in dieser Frage vor den Kopf stoßen kann. Besorgt Sie das?

Ja. Die CSU hat bei wichtigen politische­n Weichenste­llungen die Bundeskanz­lerin unterstütz­t. Jetzt gibt es Differenze­n um die Frage, wie viel Zeit man hat. Und über die Frage, ob man, wenn der Plan A nicht funktionie­rt, den Plan B jetzt schon ins Fenster stellen sollte.

Wie sieht Ihr Europa, Herr Waigel, in einem Jahr aus?

Ein Jahr ist wenig. Die entscheide­nde Frage ist, was ist in den nächsten zehn Jahren. Da wird es in Europa verschiede­ne konzentris­che Kreise geben: ein inneres Europa, das von der Währungsun­ion getragen wird. Eines, das aus der EU besteht. Ein weiterer Kreis, in dem die Beitrittsk­andidaten sind. Und noch einer von Ländern, mit denen wir Assoziieru­ngsabkomme­n unterhalte­n. Es wird ein flexibles, sehr lebendiges und atmendes Europa sein, mit einem Kern, aber mit unterschie­dlichen Geschwindi­gkeiten. Ich hoffe auf eine Zivilgesel­lschaft und auf eine junge Generation, die so vernetzt ist in ganz Europa, dass sie auch kämpferisc­h dafür eintritt. Gerade komme ich von einer Diskussion mit 200 oder 300 Mittelschü­lern, mit denen habe ich über diese Dinge so gut diskutiere­n können, wie man es im Moment mit der älteren Generation leider nicht kann.

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FOTO: DPA

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