Schwäbische Zeitung (Biberach)
Kein D-Day für Merkel
Ja, es wird immer einsamer um Merkel. Manche Minister werden mutlos, andere versagen. Die CSU setzt die Kanzlerin enorm unter Druck, die Fliehkräfte in der Koalition wachsen, der Partner SPD wird unruhiger. Die Kanzlerin ist angespannt, ihre Flüchtlingspolitik wird von vielen nicht mitgetragen, schlimmer noch, nicht verstanden.
Angela Merkel selbst hat vor einigen Wochen ihre ganz persönliche Zeitschiene beschrieben. Erst komme die Syrien-Konferenz, dann der EU-Gipfel und dann werde sie eine erste Zwischenbilanz ziehen. Klar ist aber schon vor dem Gipfel, dass die Kanzlerin ihre Ziele verfehlt hat. Die Flüchtlingszahlen sind noch lange nicht in der erwünschten Größenordnung zurückgegangen, eine gerechte Verteilung in Europa ist nicht in Sicht und bis jetzt gibt es nur eine kleine Koalition der Willigen.
Und doch wird der EU-Gipfel in Brüssel selbst im Fall des totalen Misserfolgs nicht Merkels D-Day werden. Er wird nicht über ihr Schicksal entscheiden. Denn zum einen hat die Kanzlerin alle ihre Erwartungen schon zurückgenommen, das vorläufige Scheitern schon eingestanden. Zum anderen folgt die Unionsfraktion Merkel zwar nicht geschlossen in der Sache, aber geschlossen, wenn es um die Macht geht.
Merkel hat zu Beginn der Flüchtlingskrise Fehler gemacht, sie hat sich der europäischen Solidarität nicht vergewissert. Jetzt muss sie mühsam um sie kämpfen, in einem Europa, das zunehmend auf nationale Lösungen setzt. Ein Europa der egoistischen Nationalstaaten ist nicht mehr das Europa, das in den letzten 50 Jahren für Wohlstand und Frieden gesorgt hat.
Merkel will deshalb nicht kampflos beidrehen und die deutschen Grenzen schließen, sie hält an einer europäischen Lösung fest. Wenn nicht heute, dann morgen. Ihrem Kurs ist der Erfolg zu wünschen. Nicht in erster Linie, damit die Kanzlerin unbeschadet aus der Flüchtlingspolitik hervorgeht. Sondern damit Flüchtlingen geholfen werden kann und Europa eine seiner größten Bewährungsproben besteht.