Schwäbische Zeitung (Biberach)
Der amerikanische Alptraum
Filme von Spike Lee und Michael Moore bei der Berlinale
- Der sechste Tag der Berlinale gehörte Amerika. Doch es waren überwiegend die Schattenseiten des amerikanischen Traumes zu sehen. Rafi Pitts erzählt in „Soy Nero“von Einwanderern, die als „Green Card Soldiers“in der US-Army verheizt werden. Spike Lee führt in „Chi-Raq“in einem schrillen Stilmix die blutigen Bandenkriege unter Schwarzen in den Gettos von Chicago vor. Und Michael Moore macht, was er immer macht: Auch in „Where to Invade Next“arbeitet er sich provokativ und einseitig an seinem Heimatland ab. Diesmal reist er als „Eroberer“nach Europa und Tunesien, um dortige Errungenschaften für die USA zu „stehlen“.
Die literarische Spurensuche des britischen Theaterregisseurs Michael Grandage fällt da aus dem Rahmen: „Genius“gelingt es, aus der visuell betrachtet nicht sonderlich prickelnden Arbeit eines Lektors einen zwar konventionell, aber gut erzählten Film zu machen. Er spielt in den späten 1920er-, frühen 1930er-Jahren in New York, als mit den Werken von Scott Fitzgerald, Ernest Hemingway und Thomas Wolfe eine neue Ära der amerikanischen Literatur begann. Entdeckt wurden sie alle von dem Lektor Max Perkins.
Vom Starfaktor profitierte die Berlinale und wird dieser britischamerikanischen Koproduktion gewiss einen Achtungserfolg bringen: Colin Firth spielt den zurückhaltenden Verleger, Jude Law das exaltierte, egomanische Genie Thomas Wolfe. Und Nicole Kidman darf mal wieder als Neurotikerin glänzen – wobei ihr der Auftritt keine Reise nach Berlin wert war.
BERLIN
Amerikaner um jeden Preis
Der britisch-iranische Regisseur Rafi Pitts gilt als Vertreter des neorealistischen, engagierten Kinos. Er war mit „The Hunter“2010 schon einmal im Wettbewerb der Berlinale vertreten. In der deutsch-französisch-mexikanischen Koproduktion „Soy Nero“geht es um einen jungen Mexikaner, der nur eines will: Amerikaner werden. Dafür ist er bereit, sich als Soldat bei der Army zu verdingen. Solche Leute nennt man „Green Card Soldiers“. In der US-Armee dienen laut einem Bericht von Associated Press 17 000 Soldaten, die keine US-Bürger sind, aber durch ihren Militärdienst hoffen, solche zu werden. Die spanisch-sprachige Zeitung „El Tiempo Latino“schreibt, dass die Zahl der gefallenen Latinos im Irakkrieg im Vergleich zu anderen Minderheiten überproportional hoch sei.
Ein starkes Thema. Aber der Film bekommt es nicht überzeugend in den Griff. Da bleibt zu viel im Unklaren. Der junge Nero (Johnny Ortiz) wird nach seiner Flucht aus Mexiko von amerikanischen Polizisten festgenommen, fährt dennoch per Anhalter mit einem durchgeknallten ehemaligen Soldaten nach Los Angeles. In Beverly Hills nimmt ihn die Polizei fest. Ein Latino im Villenviertel – allein das reicht, um die klassische Cop-Show „Hände aufs Autodach, Beine auseinander“abzuziehen. Schließlich landet der junge Nero als GI an einem Kontrollpunkt in Afghanistan. Aber auch da bleibt er der Außenseiter. Sterben darf er für dieses Land, dort leben aber nicht.
Bei Spike Lee ist immer klar, wohin die Reise geht. Zwar bringen sich die Schwarzen in South Chicago gegenseitig um, aber schuld sind die Verhältnisse. Und wer ist dafür verantwortlich? Im Endeffekt das weiße Establishment. Ausgangspunkt dieses Films ist auch hier die brutale Wirklichkeit: In Chicago sind zwischen 2001 und 2015 nicht weniger als 7356 Menschen durch Waffengewalt ums Leben gekommen. Das sind mehr, als im Irakkrieg gefallen sind. Das Wort „Chi-Raq“, eine Kombination von Chicago und Irak, soll das zum Ausdruck bringen.
Spike Lees Film ist kein realistisches Sozialdrama. Vielmehr wählt der vergangenes Jahr mit einem Ehren-Oscar ausgezeichnete Vertreter des „New Black Cinema“einen wilden Stilmix aus Musical, GangstaRap und griechischer Tragödie, um von dieser traurigen Tatsache zu erzählen. Die Frauen aus South Chicago wollen den Irrsinn stoppen und kommen auf die antike LysistrataMethode der Sexverweigerung. Das Problem: Der Film ist eine krude Mischung aus grotesker Überzeichnung und ernst gemeinter Gesell- schaftskritik. Die Darstellerriege ist beeindruckend, von Angela Bassett über Samuel L. Jackson bis zu John Cusack. Aber der Film ist visuell und sprachlich dermaßen zugekleistert mit ordinärem Rap und dicker Musiksoße, dass einem übel ist, wenn man das Kino verlässt.
Michael Moore auf Invasionstour
Offensichtlich läuft da was ziemlich schief in der amerikanischen Gesellschaft. Das sieht Michael Moore auch so. Der amerikanische Dokumentarfilmer sägt mal wieder lustvoll an den Nerven seiner Landsleute – und beschert uns Nicht-Amerikanern gute Unterhaltung. Der Titel „Where to Invade Next“ist natürlich eine Anspielung auf die aus Moores Sicht politisch fragwürdige Art der US-Amerikaner, sich als Weltpolizist aufzuführen, im Grunde aber nur eigene Interessen zu verfolgen. „Was außer Öl braucht Amerika noch?“, fragt ein übrigens sichtlich geschwächter Michael Moore. Zum Beispiel so ein tolles Schulsystem wie in Finnland oder kostenlose Universitäten wie in Slowenien oder so eine gute Vergangenheitsbewältigung wie in Deutschland. Solche Errungenschaften will er für die USA „beschlagnahmen“.
Das ist natürlich alles hoffnungslos einseitig und manipulativ und auch naiv, aber für Nicht-Amerikaner witzig und unterhaltsam. In Erinnerung bleibt eine Szene aus Island. Moore holt drei weibliche Spitzenkräfte vor die Kamera. „Möchten Sie in Amerika leben?“, fragt Moore. „Niemals. Ich möchte nie eure Nachbarin sein. Ihr denkt immer nur an das Ich, nie an das Wir.“
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