Schwäbische Zeitung (Biberach)
Die Torys sind in der EU-Frage tief gespalten
Londons Bürgermeister Boris Johnson beschert als Befürworter des Austritts David Cameron einen herben Rückschlag
- Im Abstimmungskampf um Großbritanniens Verbleib in der EU muss sich Premierminister David Cameron über die Köpfe seiner Partei hinweg ans Volk wenden. Dies verdeutlichte am Montag die Debatte im Unterhaus über den am Freitag erzielten Deal in Brüssel. Mehrere Dutzend Abgeordnete von Camerons konservativer Partei verweigerten ihrem Chef die Gefolgschaft und riefen das Volk für das Referendum am 23. Juni zum Nein auf, darunter auch führende Kabinettsmitglieder.
Schon am Sonntagabend hatte der Regierungschef einen schweren Rückschlag erlitten, als sein schärfster Partei-interner Rivale Boris Johnson als Befürworter des Austritts („Brexit”) auftrat. Es sei „Zeit, ein neues Verhältnis zu Europa anzustreben”, erklärte der Londoner Bürgermeister.
LONDON
Der unkonventionelle Johnson gilt neben dem Premierminister als einer der wenigen Politiker, deren Meinungsführerschaft das Wahlvolk beeinflussen kann. Dieser Meinung war offenbar Cameron auch selbst: Bis zuletzt hatte der 49-Jährige versucht, seinen Zeitgenossen am EliteInternat Eton und der Elite-Universität Oxford auf seine Seite zu ziehen. Vergeblich.
Cameron verteidigt Ergebnisse
Cameron verteidigte im Unterhaus die in Brüssel erreichten Ergebnisse. Diese würden der Insel eine „Sonderstellung innerhalb der EU“und „die beste beider Welten“bescheren, sagte der Premierminister. Die Mitgliedschaft im 28er-Club mache sein Land „sicherer, stärker und wohlhabender“. Hingegen tadelten Sprecher der Opposition den Konservativen dafür, dass er um des Parteifriedens willen die Volksabstimmung überhaupt vom Zaun gebrochen habe. Labour-Chef Jeremy Corbyn sprach von einer „verpassten Gelegenheit“, die EU demokratischer zu machen. Dennoch will die große Mehrheit der alten Arbeiterpartei ebenso für den EU-Verbleib kämpfen wie Liberaldemokraten, Grüne sowie schottische und walisische Nationalisten. Hingegen sind die Torys, die älteste politische Partei der Welt, tief gespalten. Zählungen der BBC zufolge haben sich mittlerweile 111 konservative Parlamentsmitglieder hinter den Premierminister gestellt, 97 wollen für den Brexit stimmen.
Inoffiziellen Schätzungen zufolge könnten bis zu 150 Mandatsträger Cameron die Gefolgschaft verweigern. Angeführt wird die Rebellentruppe neben Johnson von Justizminister Michael Gove, einem früheren engen Freund Camerons, sowie dessen Vorgänger im Parteiamt, dem Sozialminister Iain Duncan Smith.
Hingegen haben sich die Ressortschefs der Ministerien für Finanzen, Wirtschaft, Äußeres, Inneres, Verteidigung und Umwelt sämtlich für den Verbleib der Insel in der EU positioniert. Die Differenzen bei den Torys werden durch ein Zugeständnis, den die EU-Feinde dem Premierminister schon zu Jahresbeginn abgerungen hatten, offensichtlich. Wie beim Referendum 1975 über den Verbleib in der damaligen EWG, als die damalige Regierungspartei Labour tief zerstritten war, dürfen Kabinettsmitglieder öffentlich gegen die Linie der eigenen Regierung argumentieren.
Nach dem Abstimmungskampf soll Camerons Team wie damals das Kabinett von Labour-Premier Harold Wilson wieder zu vertrauensvoller gemeinsamer Arbeit zurückkehren. Allerdings bezweifelt in London kaum jemand, dass Cameron im Fall eines Brexit-Votums zurücktreten müsste. Im Nachfolgekampf hätte dann Boris Johnson weit bessere Karten als der bisher als Favorit gehandelte Finanzminister George Osborne.