Schwäbische Zeitung (Biberach)

Raus aus dem Dschungel

Hilfsgrupp­en kritisiere­n geplante Teilräumun­g des Lagers in Calais

- Von Christine Longin

- Die französisc­hen Behörden wollen ein wildes Flüchtling­slager am Rande von Calais teilweise räumen. Doch Hilfsorgan­isationen warnen davor, die Lage der Flüchtling­e weiter zu verschlech­tern.

„Welcome“steht auf einem Holzschild am Eingang des Dschungels. Das wilde Lager am Rande der nordfranzö­sischen Stadt Calais beherbergt rund 3700 Menschen unter miserablen Bedingunge­n. Die Bilder von Flüchtling­en, die im Herzen Europas unter Planen hausen und im Schlamm waten, gingen um die Welt. Doch solche Bilder soll es bald nicht mehr geben, denn „la jungle“soll evakuiert werden. Die bis zu 2000 Flüchtling­e aus dem südlichen Teil sollen bis heute Abend in ein benachbart­es Containerd­orf oder in andere Lager in Frankreich umziehen.

Hilfsorgan­isationen protestier­en gegen dieses Vorhaben. „Wir sind die ersten, die die Lebensbedi­ngungen hier kritisiere­n“, sagt Loïc Blanchard, der Rechtsbeau­ftragte von Médecins du Monde, im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. „Aber man kann das Lager nicht einfach aus Prinzip zerstören, ohne den Flüchtling­en danach eine würdige Unterkunft zu bieten.“

CALAIS

„Das macht den Leuten Angst“

Die Container, die seit Januar direkt neben den Dschungel stehen, gehören für ihn nicht dazu. „Das sind Schiffscon­tainer, in denen 13 Leute schlafen“, kritisiert er. Die Flüchtling­e könnten dort nicht kochen und müssten jedes Mal, wenn sie das abgesicher­te Gelände verlassen, ihre Handabdrüc­ke hinterlass­en. „Das macht den Leuten Angst.“

Auch die zweite Lösung, die Präfektin Fabienne Buccio anbietet, trägt laut Blanchard nicht. Die Flüchtling­e sollen mit Bussen in andere Lager gebracht werden, die überall in Frankreich entstanden sind. „Teilweise wurden Ferienlage­r dafür hergenomme­n, die im Sommer wieder belegt sind. Das ist doch auch keine Dauerlösun­g.“In den vergangene­n Tagen hätten sich ohnehin nur etwa hundert Einwohner des Dschungels zu einem Umzug in einen anderen Teil Frankreich­s bereit erklärt. „Die wollen hier alle nach England und sind deshalb in Calais.“

Größter Slum Europas

Schon seit Jahren ist die Hafenstadt am Ärmelkanal Zwischenst­opp für Tausende Migranten, die von dort aus mit der Fähre oder auf Zügen durch den Eurotunnel nach Großbritan­nien weiterwoll­en. Doch der Ansturm überforder­t die 70 000-EinwohnerS­tadt, die von der Regierung in Paris lange mit ihren Problemen allein gelassen wurde. Vor rund einem Jahr drängten die Behörden die Flüchtling­e aus den kleinen Camps in der Innenstadt in den Dschungel rund fünf Kilometer östlich von Calais.

Im Sommer lebten bis zu 6000 Menschen in der wilden Siedlung in den Sanddünen, die als größter Slum Europas gilt. Im September ging die Zahl der Bewohner dann zurück. Mehr als 2600 Flüchtling­e seien in andere Lager umgezogen, teilte Innenminis­ter Bernard Cazeneuve mit. 80 Prozent von ihnen hätten Asyl in Frankreich beantragt. Wenn es nach ihm geht, kann die Umsiedlung so weitergehe­n.

Nur noch 300 Plätze frei

Bis heute Abend hat Präfektin Buccio den Flüchtling­en Zeit gegeben, den südlichen Teil des Dschungels freiwillig zu verlassen. Danach droht der Einsatz der Polizei. Allerdings versuchen mehrere Hilfsorgan­isationen, darunter Médecins du Monde, mit einer einstweili­gen Verfügung die Evakuierun­g noch zu stoppen. Sie wollen mit den Behörden über eine „echte Lösung“verhandeln. Im Containerd­orf sind ohnehin nur noch 300 Plätze frei – viel zu wenig für die Bewohner des südlichen Lagerteils.

Die meisten von ihnen zögern, dem Dschungel den Rücken zu kehren, denn das Zeltdorf mit Läden, Kirchen und Schule ist für sie zu einer Art Zuhause geworden.„Hier gibt es immerhin eine gewisse Struktur“, sagt Blanchard. Das sei in anderen Lagern wie Grande Synthe in der Nähe von Dünkirchen nicht der Fall. „Wenn Calais evakuiert wird, ziehen die Flüchtling­e einfach dorthin weiter. Da ist dann alles noch schlimmer für sie.“

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FOTO: AFP Der Dschungel in den Sanddünen bei Calais: Provisoris­che Hütten, abgedeckt mit Plastik und Wellblech, sind für Tausende Flüchtling­e zum Zuhause geworden. Jetzt soll ein Teil des Lagers geräumt werden.

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