Schwäbische Zeitung (Biberach)
Straftäter Junge Männer im offenen Vollzug üben neues Leben.
Im Seehaus Leonberg verbringen junge Männer ihre Haft im offenen Vollzug
LEONBERG - Es ist frühmorgens, viel zu früh. Stockfinster liegt das Krummbachtal bei Leonberg (Landkreis Böblingen) da. Durchbrochen wird die Dunkelheit nur von kleinen, strahlenden Lichtern, die im Gleichschritt auf und ab hüpfen. Wäre Sven noch in der Jugendvollzugsanstalt in Adelsheim, würde er um 5.45 Uhr noch im Bett in seiner Zelle liegen. Stattdessen joggt er jetzt mit der Stirnlampe auf dem Kopf und Seitenstechen im Bauch durch den Wald. Anfangs, da hätte er öfter mal übers Abhauen nachgedacht, sagt er. Scheiß auf den Frühsport, die Haftstrafe, die ihm im Nacken sitzt und auf die zweite Chance, von der hier alle reden. Einfach weglaufen. Schließlich gibt es nichts, was ihn davon abhalten würde. Keine Mauern, keine Gitter, keine Zäune.
Seit fast einem Jahr lebt Sven im Seehaus Leonberg. Die Einrichtung 14 Kilometer westlich von Stuttgart ist das, was der Gesetzgeber „Jugendstrafvollzug in freien Formen“nennt. Männer zwischen 14 und 23 Jahren können sich aus dem Knast für das Seehaus bewerben. Sexualstraftäter und Mörder sind ausgeschlossen, ansonsten bleibt als Voraussetzung nur der Wille zur Veränderung. Ist der vorhanden, tauschen die Männer das Gefängnis gegen das Gelände mit dem Teich und dem alten Gutshof mit den Stallungen, der einmal Sitz von Herzogin Sibylla von Anhalt war.
Hier leben Sven und die anderen zehn Häftlinge gemeinsam mit Familien und deren Kindern in Wohngemeinschaften. Fachwerk statt Betonmauer, geblümte Vorhänge statt Gittern an den Fenstern, Familienanschluss statt Gefängniswärter.
Strenge Regeln
Idylle ist das für die jungen Verbrecher trotzdem nicht. Denn in dem Knast, den keine Mauern umgeben, bilden umso strengere Regeln und ein straffer Tagesablauf das Fundament des Alltags. Frühsport, gemeinsames Lesen, Putzdienst, Schuften auf dem Bau und in der Werkstatt, Abendessen, Nachrichten schauen, Gesprächskreise. Jeden Tag, fünfmal die Woche, bis um 22 Uhr die Lichter ausgehen. „Die meisten unserer Jungs haben immer gemacht, worauf sie Lust hatten. Aber nach der Haft müssen sie fit sein für einen AchtStunden-Arbeitstag“, sagt Einrichtungsleiter Tobias Merckle. Der Sozialpädagoge mit dem schwäbischen Dialekt und dem freundlichen Gesicht gründete das Seehaus. Freier Träger ist sein christlicher Verein Seehaus. Schon seit 1953 gibt es im Jugendgerichtsgesetz die rechtliche Grundlage für den freien Strafvollzug als Alternative zum Gefängnis. Die ersten Modelleinrichtungen entstanden allerdings erst 2003 mit dem Projekt Chance in Creglingen und dem Seehaus Leonberg. Seitdem geben sie straffälligen Jugendlichen die Chance, sich auf ein Leben ohne Straftaten vorzubereiten.
Am Horizont beginnt die Sonne die Dunkelheit zu verdrängen und färbt den Himmel rosarot. Xavier Naidoos Stimme tönt aus den Boxen in der Wohngemeinschaft der Häftlinge und mischt sich unter das Getöse des Staubsaugers. „Wenn du nicht mehr staunen kannst, tust du mir leid, dann hast du keine Chance mehr“, hallt es durchs Zimmer – fast so, als würde Naidoo den Sonnenaufgang über Leonberg besingen. Vor dem Fenster trocknen Jeans und TShirts auf einem Ständer, in der Ecke steht ein Tischkicker und eine Topfpflanze, die vorwurfsvoll die Blätter hängen lässt. Es ist 7.15 Uhr, kaum zwei Stunden nach dem Frühsport steht der Hausputz an. Während die anderen wischen und Teller spülen, geht Sven beladen mit zwei Kartons voller Altpapier über den Hof zum Müllcontainer, lässt das Geschirrgeklapper und das Gewusel hinter sich. Es sind nur fünf Minuten, aber die hat er ganz für sich. Durchatmen. Denn das, so sagen die Häftlinge, ist die echte Herausforderung am Leben im Seehaus: So gut wie nie hat man seine Ruhe.
In ihrer Anfangszeit gehen die Häftlinge nicht einmal alleine aufs Klo. Sich frei auf dem Gelände bewegen zu dürfen, dieses Privileg hat sich Sven im letzten Jahr hart erarbeitet.
Wir verletzen niemanden, weder durch Worte noch durch Taten.
Wir nehmen keine illegalen Drogen, wir nehmen auch keine Drogen an oder geben sie weiter.
Wir konfrontieren, um zu helfen, nicht um zu verletzen.
Und so weiter und so fort. Die zwölf Seehaus-Grundregeln kennt Sven mittlerweile besser als die Texte seiner Lieblingsrapper. Jeden Tag werden er und die anderen von den Mitarbeitern bewertet. Wer zu spät kommt, flucht oder seine Aufgaben nicht erledigt, wird in der Hierarchie herabgestuft. Wer einmal abhaut, hat seine Chance ganz vertan und wandert zurück in den Knast. Für Sven keine Option mehr, sagt er. Denn mittlerweile hat er sich zum „Löwen“hochgearbeitet, die höchste von fünf Stufen im Seehaus. Einmal die Woche darf er sogar auswärts beim Leonberger Fußball-Club kicken, jedes zweite Wochenende sieht er seine Familie.
„Wenn man sich erst mal an die Regeln gewöhnt hat, geht es schon“, sagt Sven. Würde er eine Rolle in einer Gefängnis-Fernsehserie spielen, er wäre nicht der Typ mit den Muskeln und den Tattoos, mit dem man sich besser nicht anlegt. Beim Reden suchen seine braunen Augen den Boden ab, so als würde er hoffen, die Antwort dort irgendwo zu finden. Die Stimme ist leise, das, was er sagt, kommt zögernd und reflektiert. Schwer vorstellbar, dass dieser junge Mann so viel kriminelle Energie aufgebracht haben soll, dass er letztlich in der Jugendvollzugsanstalt in Adelsheim gelandet ist. Und doch: Aus der anfänglichen Bewährungsstrafe wegen Diebstahl, Einbruch und Betrug wurde eine dreijährige Haftstrafe. Viele Gedanken über die Konsequenzen hat er sich nicht gemacht. Nicht als er beim Internetportal der Deutschen Bahn massenweise Tickets löste, die er später nicht bezahlte, und auch nicht, als er mit einem Kumpel in die Jugendeinrichtung eingebrochen ist, in der er einmal wohnte.
Christliche Werte mitgeben
Heute steckt Sven sein handwerkliches Geschick nicht mehr in das Aufbrechen von Türen, sondern in die Arbeit in der hauseigenen Schreinerei. Während ihrer Zeit im Seehaus beginnen alle Jugendlichen das erste Lehrjahr für Bauberufe. Außerdem leisten sie gemeinnützige Arbeit, entfernen zum Beispiel Graffiti, um so Wiedergutmachung an der Gesellschaft zu leisten, wie Merckle es sagt. Christliche Werte und im Idealfall auch den Glauben an Gott, das will der Einrichtungsleiter den Männern mitgeben. In den ersten drei Wochen lesen die Häftlinge jeden Tag in der Bibel, ob sie danach dabei bleiben, ist ihnen freigestellt, sagt Merkle. Auch an den Sonntagsgottesdiensten müsse niemand teilnehmen. „Als diakonische Einrichtung bieten wir den Glauben an, wollen aber nicht missionieren“, so Merckle. Sven hat sich gegen das Bibellesen am Morgen und gegen den Gottesdienst am Sonntag entschieden. Was das Seehaus für ihn ausmacht, ist viel mehr das Zusammenleben. Denn am Ende des Tages sind es nicht nur die Vorschriften, die Sven und die anderen im Seehaus halten, sondern auch die Menschen, die sie hier ins Herz schließen.
Gemeinsames erleben
Menschen wie Nele. Nele ist elf Monate alt, hat blaue Kulleraugen und Pausbäckchen. Wenn die Männer in ihren dreckigen Latzhosen von der Arbeit nach Hause kommen, strecken sie dem Mädchen die Handflächen zum High-Five hin und warten geduldig, bis die Kinderhand die Begrüßung erwidert. Nele wohnt mit ihren Eltern Sara und Felix Bader Tür an Tür mit den Häftlingen. Abends riecht es nach Selbstgekochtem, alle sitzen zusammen um die große Tafel. „Gib mal bitte die Soße rüber, Daddy“, ruft einer Felix vom anderen Ende zu. Gelächter. Sie alle als harmonische, große Familie, die jungen Männer nehmen dieses Bild gern aufs Korn – vielleicht, weil sie es von zu Hause nicht kennen. Gemeinsames Essen, Kicker spielen, aber auch mal ein Machtwort sprechen, wenn sich einer danebenbenimmt: Als „Hauseltern“sind Sara und Felix für die Jugendlichen die engsten Bezugspersonen. Felix wahrscheinlich sogar noch mehr als seine Frau. Der 39-Jährige hat selbst keine lupenreine Vergangenheit und kämpfte früher einmal mit Drogenproblemen. Das sei für ihn die größte Motivation, sagt er. Felix will den Jungs – wie er sie nur nennt – zeigen, dass es auch anders geht, dass man nicht spießig sein muss, um ein geregeltes Leben zu leben.
Für Sven kann das bald wahr werden. Wenn er draußen eine Schreinerei findet, in der er seine Ausbildung abschließen kann, und eine Wohnung, könnte er sein letztes Jahr auf Bewährung verbringen. Ob er denn keine Angst davor hat, wieder in alte Muster zu verfallen, wenn da plötzlich kein Frühsport mehr ist, kein Punktabzug für Unpünktlichkeit und keine Nele, die ihn nach der Arbeit begrüßt?
Svens Augen suchen den Boden ab, die Decke. Klar. Die Gefahr bestünde immer. Der Blick wandert weiter. Aber am Ende ist es ja immer noch seine Entscheidung, sagt er und schaut nach draußen.