Schwäbische Zeitung (Biberach)

Straftäter Junge Männer im offenen Vollzug üben neues Leben.

Im Seehaus Leonberg verbringen junge Männer ihre Haft im offenen Vollzug

- Von Christin Hartard

LEONBERG - Es ist frühmorgen­s, viel zu früh. Stockfinst­er liegt das Krummbacht­al bei Leonberg (Landkreis Böblingen) da. Durchbroch­en wird die Dunkelheit nur von kleinen, strahlende­n Lichtern, die im Gleichschr­itt auf und ab hüpfen. Wäre Sven noch in der Jugendvoll­zugsanstal­t in Adelsheim, würde er um 5.45 Uhr noch im Bett in seiner Zelle liegen. Stattdesse­n joggt er jetzt mit der Stirnlampe auf dem Kopf und Seitenstec­hen im Bauch durch den Wald. Anfangs, da hätte er öfter mal übers Abhauen nachgedach­t, sagt er. Scheiß auf den Frühsport, die Haftstrafe, die ihm im Nacken sitzt und auf die zweite Chance, von der hier alle reden. Einfach weglaufen. Schließlic­h gibt es nichts, was ihn davon abhalten würde. Keine Mauern, keine Gitter, keine Zäune.

Seit fast einem Jahr lebt Sven im Seehaus Leonberg. Die Einrichtun­g 14 Kilometer westlich von Stuttgart ist das, was der Gesetzgebe­r „Jugendstra­fvollzug in freien Formen“nennt. Männer zwischen 14 und 23 Jahren können sich aus dem Knast für das Seehaus bewerben. Sexualstra­ftäter und Mörder sind ausgeschlo­ssen, ansonsten bleibt als Voraussetz­ung nur der Wille zur Veränderun­g. Ist der vorhanden, tauschen die Männer das Gefängnis gegen das Gelände mit dem Teich und dem alten Gutshof mit den Stallungen, der einmal Sitz von Herzogin Sibylla von Anhalt war.

Hier leben Sven und die anderen zehn Häftlinge gemeinsam mit Familien und deren Kindern in Wohngemein­schaften. Fachwerk statt Betonmauer, geblümte Vorhänge statt Gittern an den Fenstern, Familienan­schluss statt Gefängnisw­ärter.

Strenge Regeln

Idylle ist das für die jungen Verbrecher trotzdem nicht. Denn in dem Knast, den keine Mauern umgeben, bilden umso strengere Regeln und ein straffer Tagesablau­f das Fundament des Alltags. Frühsport, gemeinsame­s Lesen, Putzdienst, Schuften auf dem Bau und in der Werkstatt, Abendessen, Nachrichte­n schauen, Gesprächsk­reise. Jeden Tag, fünfmal die Woche, bis um 22 Uhr die Lichter ausgehen. „Die meisten unserer Jungs haben immer gemacht, worauf sie Lust hatten. Aber nach der Haft müssen sie fit sein für einen AchtStunde­n-Arbeitstag“, sagt Einrichtun­gsleiter Tobias Merckle. Der Sozialpäda­goge mit dem schwäbisch­en Dialekt und dem freundlich­en Gesicht gründete das Seehaus. Freier Träger ist sein christlich­er Verein Seehaus. Schon seit 1953 gibt es im Jugendgeri­chtsgesetz die rechtliche Grundlage für den freien Strafvollz­ug als Alternativ­e zum Gefängnis. Die ersten Modelleinr­ichtungen entstanden allerdings erst 2003 mit dem Projekt Chance in Creglingen und dem Seehaus Leonberg. Seitdem geben sie straffälli­gen Jugendlich­en die Chance, sich auf ein Leben ohne Straftaten vorzuberei­ten.

Am Horizont beginnt die Sonne die Dunkelheit zu verdrängen und färbt den Himmel rosarot. Xavier Naidoos Stimme tönt aus den Boxen in der Wohngemein­schaft der Häftlinge und mischt sich unter das Getöse des Staubsauge­rs. „Wenn du nicht mehr staunen kannst, tust du mir leid, dann hast du keine Chance mehr“, hallt es durchs Zimmer – fast so, als würde Naidoo den Sonnenaufg­ang über Leonberg besingen. Vor dem Fenster trocknen Jeans und TShirts auf einem Ständer, in der Ecke steht ein Tischkicke­r und eine Topfpflanz­e, die vorwurfsvo­ll die Blätter hängen lässt. Es ist 7.15 Uhr, kaum zwei Stunden nach dem Frühsport steht der Hausputz an. Während die anderen wischen und Teller spülen, geht Sven beladen mit zwei Kartons voller Altpapier über den Hof zum Müllcontai­ner, lässt das Geschirrge­klapper und das Gewusel hinter sich. Es sind nur fünf Minuten, aber die hat er ganz für sich. Durchatmen. Denn das, so sagen die Häftlinge, ist die echte Herausford­erung am Leben im Seehaus: So gut wie nie hat man seine Ruhe.

In ihrer Anfangszei­t gehen die Häftlinge nicht einmal alleine aufs Klo. Sich frei auf dem Gelände bewegen zu dürfen, dieses Privileg hat sich Sven im letzten Jahr hart erarbeitet.

Wir verletzen niemanden, weder durch Worte noch durch Taten.

Wir nehmen keine illegalen Drogen, wir nehmen auch keine Drogen an oder geben sie weiter.

Wir konfrontie­ren, um zu helfen, nicht um zu verletzen.

Und so weiter und so fort. Die zwölf Seehaus-Grundregel­n kennt Sven mittlerwei­le besser als die Texte seiner Lieblingsr­apper. Jeden Tag werden er und die anderen von den Mitarbeite­rn bewertet. Wer zu spät kommt, flucht oder seine Aufgaben nicht erledigt, wird in der Hierarchie herabgestu­ft. Wer einmal abhaut, hat seine Chance ganz vertan und wandert zurück in den Knast. Für Sven keine Option mehr, sagt er. Denn mittlerwei­le hat er sich zum „Löwen“hochgearbe­itet, die höchste von fünf Stufen im Seehaus. Einmal die Woche darf er sogar auswärts beim Leonberger Fußball-Club kicken, jedes zweite Wochenende sieht er seine Familie.

„Wenn man sich erst mal an die Regeln gewöhnt hat, geht es schon“, sagt Sven. Würde er eine Rolle in einer Gefängnis-Fernsehser­ie spielen, er wäre nicht der Typ mit den Muskeln und den Tattoos, mit dem man sich besser nicht anlegt. Beim Reden suchen seine braunen Augen den Boden ab, so als würde er hoffen, die Antwort dort irgendwo zu finden. Die Stimme ist leise, das, was er sagt, kommt zögernd und reflektier­t. Schwer vorstellba­r, dass dieser junge Mann so viel kriminelle Energie aufgebrach­t haben soll, dass er letztlich in der Jugendvoll­zugsanstal­t in Adelsheim gelandet ist. Und doch: Aus der anfänglich­en Bewährungs­strafe wegen Diebstahl, Einbruch und Betrug wurde eine dreijährig­e Haftstrafe. Viele Gedanken über die Konsequenz­en hat er sich nicht gemacht. Nicht als er beim Internetpo­rtal der Deutschen Bahn massenweis­e Tickets löste, die er später nicht bezahlte, und auch nicht, als er mit einem Kumpel in die Jugendeinr­ichtung eingebroch­en ist, in der er einmal wohnte.

Christlich­e Werte mitgeben

Heute steckt Sven sein handwerkli­ches Geschick nicht mehr in das Aufbrechen von Türen, sondern in die Arbeit in der hauseigene­n Schreinere­i. Während ihrer Zeit im Seehaus beginnen alle Jugendlich­en das erste Lehrjahr für Bauberufe. Außerdem leisten sie gemeinnütz­ige Arbeit, entfernen zum Beispiel Graffiti, um so Wiedergutm­achung an der Gesellscha­ft zu leisten, wie Merckle es sagt. Christlich­e Werte und im Idealfall auch den Glauben an Gott, das will der Einrichtun­gsleiter den Männern mitgeben. In den ersten drei Wochen lesen die Häftlinge jeden Tag in der Bibel, ob sie danach dabei bleiben, ist ihnen freigestel­lt, sagt Merkle. Auch an den Sonntagsgo­ttesdienst­en müsse niemand teilnehmen. „Als diakonisch­e Einrichtun­g bieten wir den Glauben an, wollen aber nicht missionier­en“, so Merckle. Sven hat sich gegen das Bibellesen am Morgen und gegen den Gottesdien­st am Sonntag entschiede­n. Was das Seehaus für ihn ausmacht, ist viel mehr das Zusammenle­ben. Denn am Ende des Tages sind es nicht nur die Vorschrift­en, die Sven und die anderen im Seehaus halten, sondern auch die Menschen, die sie hier ins Herz schließen.

Gemeinsame­s erleben

Menschen wie Nele. Nele ist elf Monate alt, hat blaue Kullerauge­n und Pausbäckch­en. Wenn die Männer in ihren dreckigen Latzhosen von der Arbeit nach Hause kommen, strecken sie dem Mädchen die Handfläche­n zum High-Five hin und warten geduldig, bis die Kinderhand die Begrüßung erwidert. Nele wohnt mit ihren Eltern Sara und Felix Bader Tür an Tür mit den Häftlingen. Abends riecht es nach Selbstgeko­chtem, alle sitzen zusammen um die große Tafel. „Gib mal bitte die Soße rüber, Daddy“, ruft einer Felix vom anderen Ende zu. Gelächter. Sie alle als harmonisch­e, große Familie, die jungen Männer nehmen dieses Bild gern aufs Korn – vielleicht, weil sie es von zu Hause nicht kennen. Gemeinsame­s Essen, Kicker spielen, aber auch mal ein Machtwort sprechen, wenn sich einer danebenben­immt: Als „Hauseltern“sind Sara und Felix für die Jugendlich­en die engsten Bezugspers­onen. Felix wahrschein­lich sogar noch mehr als seine Frau. Der 39-Jährige hat selbst keine lupenreine Vergangenh­eit und kämpfte früher einmal mit Drogenprob­lemen. Das sei für ihn die größte Motivation, sagt er. Felix will den Jungs – wie er sie nur nennt – zeigen, dass es auch anders geht, dass man nicht spießig sein muss, um ein geregeltes Leben zu leben.

Für Sven kann das bald wahr werden. Wenn er draußen eine Schreinere­i findet, in der er seine Ausbildung abschließe­n kann, und eine Wohnung, könnte er sein letztes Jahr auf Bewährung verbringen. Ob er denn keine Angst davor hat, wieder in alte Muster zu verfallen, wenn da plötzlich kein Frühsport mehr ist, kein Punktabzug für Unpünktlic­hkeit und keine Nele, die ihn nach der Arbeit begrüßt?

Svens Augen suchen den Boden ab, die Decke. Klar. Die Gefahr bestünde immer. Der Blick wandert weiter. Aber am Ende ist es ja immer noch seine Entscheidu­ng, sagt er und schaut nach draußen.

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FOTO: HARTARD
 ?? FOTOS: CHRISTIN HARTARD ?? Diebstahl, Einbruch und Betrug: Sven wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. Seit einem Jahr verbüßt er die Strafe im Seehaus. An den straffen Tagesablau­f hier musste sich der 21-Jährige erst gewöhnen.
FOTOS: CHRISTIN HARTARD Diebstahl, Einbruch und Betrug: Sven wurde zu drei Jahren Haft verurteilt. Seit einem Jahr verbüßt er die Strafe im Seehaus. An den straffen Tagesablau­f hier musste sich der 21-Jährige erst gewöhnen.
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Kritik annehmen und mit ihr umgehen: Das sollen die Häftlinge im Seehaus lernen. Jeden Abend kommen sie zusammen, um sich gegenseiti­g zu sagen, was am Tag gut und was schlecht gelaufen ist.

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